Serie: Russische Revolution:Stimmen von 1917

Serie: Russische Revolution: undefined

Briefe und Tagebücher aus Russland (IV): Ein Großonkel des Zaren wundert sich, Leo Trotzki findet Gefallen an New York und Sergej Rachmaninow schreibt an seine Muse.

Aus dem Russischen von Tim Neshitov

Mitte Februar 1917: Schlangen vor den Brotläden, bestreikte Fabriken, es bleiben nur wenige Tage, bevor die Straßenproteste ("Weg mit der Monarchie!", "Weg mit dem Krieg!") blutig eskalieren. Am Ende der Februarrevolution wird die Regierung stürzen und Nikolaus II. abdanken.

Großfürst Alexander Michailowitsch, ein Großonkel des Zaren, wundert sich in der Hauptstadt Petrograd über die Naivität mancher Hofkenner. In New York, seinem neuesten Exilort, richtet sich Leo Trotzki in einer gemütlichen Wohnung ein; er würde gerne länger hier bleiben, Amerika gefällt ihm, aber schon wenige Wochen später wird Trotzki nach Russland eilen, um die Machtergreifung der Bolschewiken vorzubereiten. In Rostow am Don lädt der Komponist Sergej Rachmaninow seine damalige Muse Marietta Schaginjan zu einem musikalischen Tête-à-Tête ein. Und im ukrainischen Poltawa schreibt der Schriftsteller Wladimir Korolenko, der in seinem langen Leben schon viel gesehen hat, an einen Freund: "Ganz Europa ist auf die schiefe Bahn geraten."

Großfürst Alexander Michailowitsch, in Petrograd

14. Februar: "Einige Geheimniskrämer sind überzeugt, es werde bei einer Palastrevolution bleiben, das heißt der Zar werde abdanken müssen zugunsten seines Sohnes Alexej, und die Macht werde an eine Art Sonderrat übergehen, bestehend aus Menschen, 'die das russische Volk verstehen'. Dieser Plan hat mich verblüfft. Ich habe noch keinen Menschen gesehen, der das russische Volk verstünde."

Leo Trotzki, in New York City, Bronx, 1522 Vyse Avenue

Aus Trotzkis Autobiografie "Mein Leben" (S. Fischer Verlag 1929, Deutsch von Alexandra Ramm): "Wir mieteten eine Wohnung in einem Arbeiterviertel und nahmen Möbel auf Abzahlung. Die Wohnung für achtzehn Dollar im Monat war mit einem für europäische Begriffe unerhörten Komfort ausgestattet: elektrisches Licht, Gasofen, Badestube, Telefon, automatischer Aufzug für Lebensmittel und ein ebensolcher, um den Müllkasten hinunterzubefördern. Das alles hatte unsere Jungens sofort für New York eingenommen. Der Mittelpunkt ihres Lebens wurde für eine Weile das Telefon. Dieses kriegerische Instrument hatten wir weder in Wien noch in Paris gehabt."

Wladimir Korolenko an Sergej Protopopow, in Poltawa

14. Februar: "Ich habe das Gefühl, nicht nur Russland, ganz Europa fliegt Hals über Kopf in den Abgrund. Sie sind vom Beruf Ingenieur und wissen aus der Mechanik, was passiert, wenn eine gewohnte Trägheitsbewegung auf einmal aufhört. Alles brennt. Und hier, kein Witz: Ganz Europa ist auf die schiefe Bahn geraten und fliegt bergab. Und nichts spricht dafür, dass die Lokführer sich dessen bewusst sind."

Sergej Rachmaninow an Marietta Schaginjan, in Rostow

14. Februar: "So sehr ich Sie sehen will, kann ich nicht zu Ihnen kommen. Vielleicht wären Sie bereit, heute zu mir zu kommen, vor dem Konzert, in die Musikschule?! Wir werden alleine sein, das verspreche ich Ihnen. So gegen halb sieben abends. Wir könnten etwa anderthalb Stunden beisammensitzen. Ich werde spielen, und Sie mir etwas erzählen. Einverstanden? Ich schicke Ihnen meine Romanzen."

Die Brieffreundschaft zwischen Rachmaninow und Schaginjan begann 1912 und dauerte fünf Jahre, bis zu Rachmaninows Auswanderung nach Skandinavien und später in die USA. Ihren ersten Brief hatte die junge Dichterin mit "Re" unterschrieben, wie die Musiknote. Der Komponist wusste nicht, wer ihm schreibt, aber er war beeindruckt davon, wie gut der Mensch, der ihm schrieb, ihn verstand. Rachmaninow hatte jahrelang unter der gescheiterten Premiere seiner Ersten Symphonie gelitten. "Sie beschreiben mich erstaunlich treffend und kennen mich so gut. Woher?! Ich staune und staune ... Bringen Sie mir bei, an mich selbst zu glauben, liebe Re!"

So nannte er sie in seinen Briefen, auch nachdem die beiden sich kennengelernt hatten: Meine liebe Re. In einem seiner letzten Briefe schrieb er: "Heute las ich beim Aufräumen meines Schreibtisches einige Ihrer Briefe an mich wieder, liebe Re, und verspürte eine derartige Zärtlichkeit, dass ich den quälenden Wunsch hatte, Sie sofort zu sehen, zu hören, mich neben Sie zu setzen und mich herzlich mit Ihnen zu unterhalten. Oder vielleicht zu schweigen!" Was die Texte für seine Romanzen angeht, vertraute Rachmaninow dem Urteil von Schaginjan mehr als seinem eigenen. Ihren letzten Brief schickte die Dichterin 1922 nach Amerika: "Sie sind nun, wie ich höre, ein Idol der Amerikaner? Hat die permanente Zufriedenheit mit den äußerlichen Triumphen nicht vielleicht Ihre heilige Unzufriedenheit mit Ihnen selbst abgestumpft? Können Sie ohne Russland?".

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: