Serie "Mittelschicht":Die Mitte, ein hochgradig gefährdeter Ort

Serie "Mittelschicht": undefined

Können Konjunkturprogramme die Mitte vor der politischen Radikalisierung retten? Viel wichtiger wäre es, sich um die politische Kultur in unserem Land zu kümmern.

Von Herfried Münkler

Sie gilt als Garant für Stabilität, ja, als Gradmesser für die demokratische Verfasstheit eines Landes schlechthin: die Mittelschicht. Umso größer das Erschrecken, wenn diese Mitte - wie jüngst in Deutschland - meldet: Es geht uns schlecht. Diese Serie fragt: Wie wichtig ist die Mittelschicht für das Wohl eines Landes? Wie leben Länder mit junger, kleiner oder abhanden gekommener Mitte? In dieser Folge untersucht der Politologe Herfried Münkler, ob sich durch großzügige Sozialpolitik politischer Frieden erkaufen lässt.

Wenn mit Blick auf die Sozialstruktur von der Mitte die Rede ist, dann sind die gesellschaftlichen Schichten gemeint, die zwischen Oberschicht und Unterschicht angesiedelt sind. Wir begreifen im Hinblick auf die politischen Strukturen die Mitte als den Ort zwischen rechten und linken Positionen, der gegenüber beiden Extremen des politischen Spektrums Distanz wahrt.

Diese doppelte, soziale und politische Definition der Mitte hat dazu geführt, dass wir die beiden Mitten unwillkürlich miteinander identifizieren: Wo die soziale Mitte ist, da ist auch die politische Mitte, und wenn die soziale Mitte erodiert oder von Spaltung bedroht ist, gilt das auch für die politische Mitte. Im Umkehrschluss heißt das: Wer die politische Mitte verteidigen will, muss an der Bewahrung der sozialen Mitte ansetzen. Die soziale Ordnung entscheidet also über die politische Ordnung.

Was wäre passiert, wenn Reichskanzler Brüning ein Keynesianer gewesen wäre?

Im kollektiven Gedächtnis der Deutschen wird diese Vorstellung durch die Erinnerung an den Untergang der Weimarer Republik verstärkt: Die Wirtschaftskrise, das Schrumpfen der Weimarer Koalition, das Erstarken der Kommunisten auf dem linken und vor allem der Nationalsozialisten auf dem rechten Flügel des politischen Spektrums, die sich ausbreitende Angst in den mittleren Schichten, die soziale Panik, die zur politischen Hysterie wurde.

Hätte sich diese verhängnisvolle Entwicklung verhindern lassen? Fast immer läuft die Antwort darauf hinaus, dass anstelle der von Reichskanzler Brüning betriebenen Austeritätspolitik Konjunkturprogramme hätten aufgelegt werden sollen, um über die Stabilisierung der sozialen Mitte die politische Mitte zu festigen und sie davon abzuhalten, ihr Glück bei den Parteien der äußersten Linken und vor allem bei denen der äußersten Rechten zu suchen. Wäre Brüning ein Keynesianer gewesen, so die Pointe, dann hätte Hitler abgewendet werden können, die Geschichte einen anderen Verlauf genommen.

Diese Vorstellung bestimmt auch die gegenwärtige Diskussion über die Umbrüche in der deutschen wie der europäischen Parteienlandschaft. Offenbar hat sich die Vorstellung von der Sozialstruktur als Grundlage der politischen Ordnung so sehr verfestigt, dass Unterschiede zwischen den Konstellationen der Zwischenkriegszeit und denen der Gegenwart nicht mehr wahrgenommen werden und Differenzen innerhalb der europäischen Entwicklungen unbeachtet bleiben.

Die Rettung der politischen Mitte mit Hilfe von Konjunkturprogrammen ist eine Schimäre

In Deutschland herrscht eine rege Konjunktur, die Arbeitslosigkeit ist auf dem niedrigsten Stand seit der Vereinigung. Während man die Umbrüche in der Parteienlandschaft Südeuropas auf die von Brüssel oder Berlin angeblich durchgesetzte Austeritätspolitik zurückführen kann, ist das in den skandinavischen Ländern, aber auch in Polen, Ungarn, Österreich, den Niederlanden kaum möglich. Der Dramatik der parteipolitischen Veränderungen entsprechen nur geringe Veränderungen der sozialstatistischen Daten. Sie sind, wenn man das Modell der frühen Dreißigerjahre zugrunde legt, nicht der Rede wert.

Es muss also noch andere Faktoren geben, die auf die politische Mitte als Fliehkräfte einwirken. Damit soll die Bedeutung des Sozialstrukturellen nicht in Abrede gestellt werden; aber wir sollten uns frei machen von der obsessiven Idee, das Politische sei durch das Soziale determiniert. Und das heißt, dass das Projekt einer Rettung der politischen Mitte mit Hilfe von Konjunkturprogrammen eine Schimäre ist - jedenfalls in Deutschland und den prosperierenden Ländern Europas.

Die Mitte ist das Feld des Erwägens und Abwägens

Politiktheoretisch ist die Mitte der Raum, in dem man nicht von vornherein weiß, was in Reaktion auf eine Herausforderung richtig und falsch ist, was probate Gegenmaßnahmen zu unliebsamen Entwicklungen sind oder was das Unliebsame womöglich noch verstärkt. Die Mitte ist das Feld des Erwägens und Abwägens, des vorsichtigen Ausprobierens, freilich immer mit starkem Revisionsvorbehalt. Hier sind ideologische Überzeugungen am wenigsten ausgeprägt und man kann sich ergebnisoffen auf die Suche nach Lösungen machen. Das heißt, dass man dort auch Anregungen von links und rechts aufgreifen kann, die man geprüft und für gut befunden hat. In der Mitte herrscht eine ganz eigene Vorstellung von Politik, die sich grundlegend von jener auf den politischen Flügeln unterscheidet, wo ideologisch abgesicherte Gewissheiten eine sehr viel stärkere Rolle spielen.

Die Mitte als Tummelplatz der Prinzipienlosen?

Gerade deswegen ist die politische Mitte ein hochgradig gefährdeter Ort. So kann man ihn jederzeit als Tummelplatz derer denunzieren, die keine festen Überzeugungen, keine Prinzipien hätten und auch nicht haben könnten, weil sie immer auf der Suche nach der für sie vorteilhaftesten Lösung seien, die weder starke Bindungen an ihre Nation noch an eine Klasse hätten - und vieles andere mehr.

Fast alles, was in einer bestimmten Politikvorstellung die Stärke der Mitte ausmacht, verwandelt sich in einer anderen in deren Schwäche. Wie die Mitte und die in ihr praktizierte Politik jeweils beurteilt wird, hängt danach von den jeweils dominierenden Politikvorstellungen ab: Solange politische Deliberation und ein komplementärer Pragmatismus wertgeschätzt werden, hat die Mitte einen guten Stand; sobald es aber darum geht, dass feste Überzeugungen an den Tag gelegt und "klare Kanten" gezeigt werden, gerät sie in eine schwierige Lage, und vieles, was zuvor als kluge Politik galt, erscheint nun als orientierungsloses Durchwursteln. Dann fordern die einen einen klaren Plan, die anderen eine langfristige Strategie und die Dritten mehr Überzeugung und Bekenntnis zu dieser Überzeugung.

Beim Blick auf die politische Mitte kommt der politischen Kultur ein mindestens ebenso großes Gewicht zu wie der Sozialstruktur. Wer die Mitte verteidigen will, sollte nicht nur in die Sozialstruktur investieren, sondern sich auch um die politische Kultur kümmern und vermeiden, dass sich Debatten im Austausch von Bekenntnissen und Behauptungen erschöpfen.

Talkshows als ein Indikator für Veränderungen

Sieht man die jüngsten Entwicklungen in dieser Perspektive, dann ist der Bedeutungsverlust des Parlaments und der Aufstieg von politischen Talkshows paradigmatisch für die Schwächung der Mitte. Das Parlament ist zwar auch der Ort der Bekenntnisse und Behauptungen, doch immer verbunden mit dem Zwang zu politischen Kompromissen und der Erwartung, dass man seine Sichtweise formuliert, um andere Abgeordnete zu überzeugen. Beides ist bei Talkshows nicht der Fall; hier bekommt die Prämie, wer seine Position am schärfsten vertritt und keine Schwäche zeigt.

Nun heißt das nicht, dass man durch Abschaffung der Talkshows die alte Mitte retten oder wieder herstellen könnte. Talkshows sind nur ein Indikator für Veränderungen, die sich auch ohne sie abspielen. Worauf es ankommt, ist die Stärkung jener Form von Politik, in der die vielfältigen Zusammenhänge und Folgen politischer Entscheidungen und die Unzulänglichkeit von Bekenntnis und Behauptung dabei deutlich werden.

Die Mitte ist der Raum, in dem die Komplexität des Politischen, die sonst nur eine Redensart bleibt, ernst genommen und gehandhabt wird. Wo sich die Vorstellung durchsetzt, Komplexität könne durch Bekenntnis und Behauptung übersprungen werden, verliert die Mitte an Bedeutung. Sie erscheint als eine bloße Inszenierung von Mühseligkeit und Aufwand, während man doch alles viel leichter haben könne. Darauf beruht der Angriff der Populisten gleich welcher Couleur auf die Mitte.

Es hilft nur der mühselige Weg des Überzeugens mit Argumenten

Diese Sichtweise findet zurzeit in Europa und den USA viel Zustimmung. Die Verteidiger einer Kultur der Mitte als Zentralraum der politischen Ordnung haben dagegen einen schweren Stand. Ihre Lage wird nicht grundlegend besser, wenn mit Konjunkturprogrammen in die soziale Stabilität der Mittelschichten investiert wird. Fehlendes Vertrauen in die Problemlösungskapazität des Debattierens, Abwägens und der Kompromissfindung lässt sich schwerlich durch erhöhte Staatsausgaben zurückgewinnen. Dafür ist der mühseligere Weg des Überzeugens mit Argumenten zu beschreiten. Das beginnt bei der Verteidigung der EU als politisches Projekt und führt bis zum Umgang mit der Herausforderung durch die Flüchtlinge und deren Integration.

Eine Entscheidung kann "alternativlos" sein, aber sie ist das nicht qua Dekret der Kanzlerin, sondern erst nach einer langen diskursiven Prüfung, und wenn aus dem Kanzleramt verlautet, dass "wir das schaffen", dann in Verbindung mit Vorschlägen, "wie wir das schaffen". Die politische Mitte muss sich auf das zurückbesinnen, was sie ausmacht und was sie von den Rändern des Parteienspektrums unterscheidet.

Herfried Münkler lehrt Politische Theorie und Ideengeschichte an der Berliner Humboldt-Universität. Zuletzt erschien von ihm das Buch "Macht in der Mitte - Die neuen Aufgaben Deutschlands in Europa" (Edition Körber-Stiftung).

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: