Serie: Körperbilder (9):Worldwide Wollust

Warum wir nicht mehr "oversexed and underfucked" sind: Das Internet als größtes Erotik-Archiv und täglicher Sex-Ersatz verändert mit der gnadenlosen Ausstellung nackter Körper unser Empfinden.

Bernd Graff

Ausgerechnet am körperfernsten, körperfremdesten Ort, dort, wohin niemals ein Leib gelangen kann, tummelt und räkelt sich nacktestes Menschenfleisch in allen erdenklichen Posen. Es scheint absurd, doch nackter als im Internet kann ein Mensch nicht sein, und vielleicht ist gerade die Virtualität des Netzes der Grund dafür, dass dort mit aller Bildmacht versucht wird, die fehlende unmittelbare Körperlichkeit mit Bildern kopulierender Menschen zu kompensieren. Oder aber: Aus der Ungegenständlichkeit der Virtualität, ihrer Dimensionslosigkeit in Zeit und Raum, resultiert gerade die Schrankenlosigkeit der Darstellung.

Serie: Körperbilder (9): Cyber-Erotik trifft Fotokunst: Jean-Yves Lemoigne liebt das Spiel mit den Pixeln.

Cyber-Erotik trifft Fotokunst: Jean-Yves Lemoigne liebt das Spiel mit den Pixeln.

(Foto: Foto: Lemoigne)

So oder so, das Netz versammelt Körperbilder, die Menschen bei der Arbeit an und mit ihrer Lust zeigen. Nie zuvor gab es ein größeres Archiv weltweit dokumentierter Wollust. Doch halt! Es zeigt eben nicht Menschen als ganzheitliche Wesen mit Persönlichkeit, Geschichte und Beziehungen, sondern rückt aufs Gröbste jene Körperteile, -öffnungen und -flüssigkeiten in den Fokus der Darstellung, die beim Geschlechtsverkehr frei werden. Pornographie im Internet ist zuerst gynäkologisches Grundstudium weiblicher Fortpflanzungsorgane, gepaart mit Banal-Phantasien, sie zu penetrieren.

Wäre Pornographie so etwas wie Körper-Kommunikation zwischen Geschlechtspartnern, sie wäre kaum mehr als die Stenographie eines Stammelns - nun gut: eines gestöhnten Stammelns. Was man sieht (und hört), ist zumeist von bestürzender Monotonie und würde ob seiner Handlungsarmut nie die erdrückende Fülle immergleicher Bilder rechtfertigen, die das Internet fluten.

Die USA, eine Porno-Großmacht

Einem Bonmot zufolge verlöre das Internet wohl die Hälfte seiner Inhalte, wenn man die Pornographie daraus verbannte. Übrig blieben dann nur noch Seiten mit der Forderung: "Gebt uns unsere Pornos wieder!" So stimmt das natürlich nicht: Es gibt tatsächlich etwa 420 Millionen Webseiten mit pornographischen Inhalten. Das sind lediglich 12 Prozent aller Seiten im Netz. Fast 90 Prozent davon befinden sich auf amerikanischen Servern, mit großem Abstand folgt Deutschland: vier Prozent aller weltweit verfügbaren Webseiten mit explizitem Inhalt werden hierzulande produziert.

Pornographie ist jenes einzigartige Genre der Fiktion, das darauf ausgelegt ist, das Dargestellte als unbedingt real erscheinen zu lassen. Mit solcher Eindringlichkeit übrigens, dass inzwischen die "westlichen Normen für Schönheit von der Pornographie definiert werden", wie Naomi Wolf Anfang April im Times Magazine konstatierte. Pornographie inszeniert Körperkollisionen mit dokumentarischen Anspruch: Sie behauptet, die einzige Wahrheit des Leibes, der Lust und der Posen festzuhalten. Hardcore, das sagt der Name, will eben "harter Kern" sein: unverblümte, unverstellte Leiber und ihre Aktivitäten, von denen alles Unwesentliche entfernt wurde. Als unwesentlich gelten hier Gefühle, Geschichte, Beziehungen, ja sogar Dialoge: Auf dem Feld der Pornographie wird - wie in der Kirche - kaum gesprochen.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, worum es der Pornographie wirklich geht.

"Porno tötet das Verlangen"

Nach einer immer noch gängigen Definition des Oberlandesgerichts Düsseldorf aus dem Jahr 1974 handelt es sich bei Pornographie um "grobe Darstellungen des Sexuellen, die in einer den Sexualtrieb aufstachelnden Weise den Menschen zum bloßen, auswechselbaren Objekt geschlechtlicher Begierde degradieren. Diese Darstellungen bleiben ohne Sinnzusammenhang mit anderen Lebensäußerungen und nehmen spurenhafte gedankliche Inhalte lediglich zum Vorwand für provozierende Sexualität."

Unersättliche Lust

Das heißt: Der Pornographie geht es nicht um Fortpflanzung, Sinn und Leben. Es geht ihr nicht einmal um Menschen. Pornographie geht es immer nur um Pornographie. Dabei suggeriert sie die grenzenlose Verfügbarkeit von Körpern, ihre unersättliche Lust, die nur in der Überschreitung von Tabus und Normen befriedigt werden kann. Pornographie kümmert sich geradezu liebevoll um diese Unerhörtheit des Fleisches. Von John Stagliano, dem Gottvater des Gonzo-Pornos - das sind Filme, bei denen auch die Kameramänner mitmachen - und Gründer der einschlägigen Firma "Evil Angel Productions", stammt die Losung, er erwarte, dass seine Girls vor der Kamera "ihr Testosteron zeigen".

Kein Genre des Schauspiels flirtet mehr damit, kein Schauspiel zu sein, sondern realer, gebrauchsfertiger und immer mehrfach orgiastischer Exzess. Der Kritiker Richard Corliss hat die Dramaturgie pornographischer Filme so beschrieben: "Erst gibt es die boy/girl-Szene, dann die girl/girl-Szene, dann die Orgien-Szene und schließlich das Knutsch-Finale." Ein Finale, das die meisten Konsumenten gar nicht mitbekommen. Das jedenfalls konstatiert Corliss, der dazu referiert, dass zwei Drittel aller in Hotels kostenpflichtig konsumierten Filme Pornos seien, diese aber im Schnitt nur zwölf Minuten geschaut werden. "Zwölf Minuten?", fragt Corliss erstaunt: "Warum so lange, und was treiben die Zuschauer in den überflüssigen sieben Minuten?" Darum verplempert der Internetporno erst gar keine Zeit mehr mit episodischem Erzählen.

Pop(p)-Kultur

Die Fiktion des Authentischen, das mutmaßlich private Ambiente, das verwischte Make-up machen den Porno-Konsumenten zum Voyeur, zum Bettenbeobachter jenseits der privaten Hemisphäre. Vermutlich ist neben der reinen Fleischbeschau der Thrill der angebotenen Schlüssellochperspektive ein Grund dafür, dass der Porno-Boom im Internet - vor allem durch Amateurfilme - entstehen konnte. Waren zu analogen Zeiten pornographische Werke nur unter dem Ladentresen oder in Arealen des Video-Verleihs beziehbar - erforderten also eine offene Artikulation des eindeutigen Interesses -, so pornographisiert sich der Alltag mit der Selbstverständlichkeit, mit der Daten-Breitbandverbindungen in den Haushalten ankommen.

An Pornos zu gelangen, ist inzwischen leichter als an illegal kopierte Musik. Der Konsum ist längst Teil der Pop-Kultur. Wer das nicht glaubt, stelle bitte die Standardeinstellungen seiner Google-Bildersuche mal von "moderate Filterung" auf "keine Filterung" und wundere sich, was zu den familientauglichen Treffern noch so aufgerufen wird. Mit den Musikvideos und der Werbung, etwa in den Fotografien von Terry Richardson für Sisley oder in der "Rape"-Kampagne von Dolce & Gabbana oder dem wirklich lustigen Diesel-Video zum 30-jährigen Firmenbestehen, sind Anspielungen mit ihrem Reiz des Anrüchigen Teil des Medien-Mainstreams geworden. Michael Höfner, Sprecher des 1. Berliner Porn-Filmfestivals 2006, hat es auf die Formel gebracht: "Porn is chic." Und so eng verwoben mit den Produkten der Massenkultur, dass Irvine Welsh, der schottische "Trainspotting"-Autor, behauptet: "Die Pornographie niest, und die Popkultur bekommt einen Schnupfen."

Die Multi-Milliarden-Maschine

Der Web-Dienst TopTenReviews.com führt Statistik: An die einhundert Milliarden Dollar werden jährlich mit Pornographie weltweit umgesetzt. Etwa 68 Millionen mal täglich werden die Suchmaschinen nach pornographischen Inhalten befragt. Das sind 25 Prozent aller Suchanfragen. Obwohl das Netz freie Filme zuhauf anbietet, werden pro Sekunde 3075 Dollar für Pornographie und die entsprechenden Spielzeuge ausgegeben. An die 100 Milliarden sind das pro Jahr, die übrigens zu 28 Prozent in China landen.

Naomi Wolf bringt die Verkehr-Routine Anfang April 2009 im Times Magazine auf die Formel: "Porno tötet das Verlangen." Sie erinnert an Kulturen, "in denen es kein Zeichen von Prüderie ist, sich der Pornographie nicht zu unterwerfen. Vielmehr verstehen diese Kulturen das Wesen der Sexualität und wessen es bedarf, um das physische Interesse von Männern und Frauen aneinander wach zu halten." Vermutlich ist es also an der Zeit, mit einem gängigen Vorurteil aufzuräumen: Wir sind nicht "oversexed and underfucked", sondern vielmehr: (virtually) overfucked and (physically) undersexed. Obwohl auch das schon wieder egal ist. Denn unsere eigenen Körper sind ohnehin nicht mehr im Spiel.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: