Science-Fiction-Roman:Die Macht, Schmerzen zu bereiten

Gewitter über München

In Naomi Aldermand "Die Gabe" wächst Frauen ein Organ, das Elektrizität erzeugt.

(Foto: dpa)

Was wäre, wenn Frauen Männern körperlich überlegen wären - weil sie Stromstöße verteilen können? Naomi Aldermans Roman "Die Gabe" entwirft eine düstere Zukunftsvision.

Von Kathleen Hildebrand

Auf die Frage, worin sich die Lebensrealitäten von Männern und Frauen unterscheiden, soll die Schriftstellerin Margaret Atwood einmal gesagt haben: "Männer haben Angst, dass Frauen über sie lachen. Frauen haben Angst, dass Männer sie umbringen." Die Tatsache, dass ein durchschnittlicher Mann immer stärker ist als eine durchschnittliche Frau, lässt Mädchen überall auf der Welt mit Warnungen im Ohr aufwachsen, die ihr Leben lang nachhallen: Geh im Dunkeln nicht allein nach Hause. Fahr lieber nicht per Anhalter. Kauf dir ein K.O.-Spray, nur zur Vorsicht.

Der satirische Science-Fiction-Roman "Die Gabe" der Londoner Autorin Naomi Alderman kehrt diese Prämisse um. Er erzählt von einer Welt, in der Frauen diejenigen sind, deren Kraft gefürchtet wird. Und er erzählt, wie diese Umkehr der physischen Machtverhältnisse die Gesellschaft grundlegend verändert.

In den USA ist "Die Gabe" im vergangenen Herbst erschienen - kurz vor Beginn der "Me too"-Debatte. Barack Obama setzte den Roman auf die Liste seiner Bücher des Jahres, die New York Times tat es ihm gleich. Einen viel zeitgemäßeren Roman hätte es nicht geben können.

Der große Wandel beginnt mit Einzelfällen: Junge Frauen, die plötzlich Stromschläge verteilen wie Zitteraale. Mädchen, die sich Internetvideos schicken, in denen sie elektrische Lichtbögen zwischen ihren Händen britzeln lassen. Schließlich aber wird es ernst. In einem nigerianischen Supermarkt verletzt eine Frau einen Mann durch Berührung mit ihrer Hand so schwer, dass er bewusstlos zu Boden geht. "Lächel doch mal", hatte er zu ihr gesagt.

Quasi über Nacht ist in Aldermans Szenario Mädchen und jungen Frauen ein neues Organ gewachsen, mit dem sie Elektrizität erzeugen können. Es wird der "Strang" genannt und darin klingt schon an, dass dieser merkwürdige Muskel am Schlüsselbein zum metaphorischen Phallus der Frauen werden wird. Vom sanften Kribbeln auf der Haut bis zum tödlichen Stromschlag können sie - mit etwas Übung - jede Intensität aus ihren Händen schießen lassen. Weibliche Babys werden mit dem Strang geboren, junge Frauen können die Kraft in älteren erwecken. Nach ein paar Monaten gibt es weltweit kaum noch eine Frau ohne die "Gabe".

Science-Fiction-Roman: Naomi Alderman: Die Gabe. Roman. Aus dem Englischen von Sabine Thiele. Wilhelm Heyne Verlag, München 2018. 464 Seiten, 16,99 Euro.

Naomi Alderman: Die Gabe. Roman. Aus dem Englischen von Sabine Thiele. Wilhelm Heyne Verlag, München 2018. 464 Seiten, 16,99 Euro.

Woher die Frauen ihre plötzliche Elektrokraft haben, ist umstritten. Die einen sprechen von einer chemischen Waffe aus dem Zweiten Weltkrieg, die erst jetzt ihre Wirkung entfaltet. Andere sehen in ihr ein recht spätes, Einlenken Gottes - oder der "Göttin", wie eine junge religiöse Führerin sagt. Sie nennt sich Mother Eve und will von nun an Maria, die Mutter Gottes, an Stelle des Sohnes verehrt sehen.

Naomi Alderman hat in der ersten Hälfte des Romans spürbar Spaß daran, das Erwachen dieser Kraft und ihre Folgen als befriedigende Rachefantasie auszumalen. In Indien ziehen weibliche Mobs über Märkte, die Frauen zuvor nicht allein betreten konnten. Auf dem Balkan bringen die Opfer von Frauenhandel und Sex-Sklaverei ihre Peiniger um. In Saudiarabien wird die Regierung gestürzt. In den liberalen Demokratien vollzieht sich der Umbruch etwas subtiler: Jungs verkleiden sich als Mädchen, um stärker zu wirken. Die Moderatorin einer Nachrichtensendung bekommt einen attraktiven jungen Mann als Sidekick, der nicht mehr als den Unterhaltungsteil am Ende vorträgt.

Wie sich die Machtverhältnisse auch in westlichen Ländern umkehren, zeigt Alderman sehr eindrücklich am Beispiel einer ihrer Hauptfiguren: Als Margot Cleary, stellvertretende Bürgermeisterin einer US-amerikanischen Stadt, zum ersten Mal nach Aktivierung ihrer "Gabe" an einem Konferenztisch sitzt, ist sie äußerlich dieselbe wie zuvor. Innen aber ist alles anders. "Sie könnte sie töten", denkt Cleary über ihre männlichen Vorgesetzten. "Es ist egal, dass sie es nicht tun sollte und auch nie tun wird. Wichtig ist, dass sie es könnte. Die Fähigkeit, Schmerzen zuzufügen, ist eine ganz besondere Art von Reichtum."

Der Umsturz der Frauen bringt ein brutales, ungerechtes Matriarchat hervor

Doch die "Gabe" führt bei Naomi Alderman nicht zu einem feministischen Utopia, einer Welt voller Empathie und freundlichem Pragmatismus wie die Schriftstellerin Charlotte Perkins Gilman sie sich in ihrem feministischen Science-Fiction-Roman "Herland" von 1915 ausmalte. Alderman ist nicht so optimistisch. Sie steht eher in der skeptischen Tradition von Margaret Atwood, die ihr während des Schreibens an "Die Gabe" als Mentorin zur Seite stand. Naomi Alderman lässt in ihrem Roman auf sonst leeren Zwischenseiten einen Countdown laufen, der bei einem Ereignis endet, das nur als "Verheerung" bezeichnet wird. Der Umsturz der Frauen bringt ein Matriarchat hervor, das genauso brutal und ungerecht ist, wie die schlimmsten Auswüchse des patriarchalen Systems es heute sind.

Die zweite Hälfte des Buchs liest sich stellenweise wie von antifeministischen Männerrechtlern zusammendeliriert: Im ersten Frauenstaat, der auf dem Balkan entsteht, dürfen Männer bald nichts mehr ohne die Zustimmung eines weiblichen Vormunds tun. Das Autofahren wird ihnen verboten. Durch die Kriegsgebiete ziehen vergewaltigende und mordende Frauenbanden. Für spätere Jahrzehnte deuten "archäologische Funde" auf männliche Genitalverstümmelung hin. Es wird erwähnt, dass männliche Föten gezielt abgetrieben werden und Babys getötet. Das liest sich schrecklich. Aber es weist auch schmerzhaft darauf hin, dass viele Frauen heute tatsächlich unter solchen schrecklichen, absurden Zuständen leben müssen.

Blick ins Buch

Alderman geht es mit "Die Gabe" um etwas anderes als den alten Traum von einer besseren, weil weiblich regierten Welt. Der englische Originaltitel lautet nicht umsonst "The Power". Das Wort ist doppeldeutig, es heißt sowohl "Kraft" als auch "Macht". In diesem Einklang von körperlicher und gesellschaftlicher Überlegenheit steckt die Perfidie dieses klugen Buchs. Denn die Erkenntnis ist ernüchternd, dass politische und wirtschaftliche Machtverhältnisse auch in hochzivilisierten Gesellschaften heute nicht viel mehr sind als eine Abstraktion von körperlicher Kraft. Alderman zeigt, darin liegt die tiefe Düsternis ihrer nur scheinbar rettenden Idee, dass auch moderne Gesellschaften diesen Grundmechanismus von Machterlangung und -erhalt nicht überwunden haben.

Noch dunkler dräut im Hintergrund dieser Erkenntnis eine weitere Frage: Kann es reale Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern überhaupt geben, wenn die durchschnittliche Verteilung von Muskelmasse so bleibt wie sie ist? Ist es naiv zu glauben, dass "Me too"-Debatten und Frauenquote irgendwann auch die banal physischen Aspekte männlicher Herrschaft bezwingen werden? So plausibel Aldermans Szenario sein mag, dass zu große Macht jeden korrumpiert, egal ob Mann oder Frau: Wie schön wäre es, auch einmal wieder eine positive Utopie lesen zu dürfen, die ausbuchstabiert, wie eine Gesellschaft funktionieren könnte, die Macht und Herrschaft nicht einem Geschlecht zuordnet.

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