Schuldenkrise:Wer nimmt hier wen in Geiselhaft?

Schuldenkrise: Der Sozialökonom Michael Hutter bezweifelt, dass die Griechenland-Politik eine Ausgeburt des Neoliberalismus ist.

Der Sozialökonom Michael Hutter bezweifelt, dass die Griechenland-Politik eine Ausgeburt des Neoliberalismus ist.

(Foto: David Ausserhofer)

Griechenland ist nicht das Opfer einer neoliberalen Politik - und schon gar nicht des "Kolonialismus".

Von Michael Hutter

Spricht denn wirklich der Verlauf der Griechenland-Krise dafür, dass hier ein Lehrstück der neoliberalen Wirtschaftspolitik aufgeführt wird? Einer Politik also, mit der das Land, wie so viele seit Beginn des Kolonialismus, "politisch ruiniert und ökonomisch ausgesaugt" wird? Das behauptete der Soziologe Stephan Lessenich kürzlich in einem Beitrag für dieses Feuilleton (SZ vom 27. Juli). Oder müsste man, bei genauerer soziologischer und ökonomischer Beobachtung, nicht doch zu einer eher gegenläufigen Einschätzung kommen?

Einem Soziologen sollte es naheliegen, erst einmal den größeren Kontext der gesellschaftlichen Ordnung in den Blick zu nehmen. In Griechenland hat sich, mehr noch als in anderen Ländern Südeuropas, die schon in der Antike bekannte Versorgungsform der erweiterten Haushalts- oder Klientelwirtschaft erhalten. Ländliche Regionen und Städte sind durchzogen mit einem feinen Geflecht von Gefälligkeiten und Verpflichtungen. Diese Klientelwirtschaft hat sich in allen Weltregionen entwickelt, und sie ist erstaunlich widerstandsfähig. Sie verträgt sich allerdings schlecht mit staatlicher Organisation - diese wird als Mittel zur Verteilung von Pfründen internalisiert. Sie verträgt sich auch schlecht mit der wirtschaftlichen Versorgungsform, die seit dem 13. Jahrhundert in Europa entwickelt wurde: Dabei wird ein Kredit nicht für clanbezogene Loyalitäten, sondern für marktfähige Leistungen gewährt, und die jedem Kredit gegenüberstehenden Schulden werden rechtlich und staatlich durchgesetzt. So kann eine dynamische Kapitalakkumulation stattfinden, die aber keineswegs "ungezügelt" ist.

Alles nur ein Diktat? Eine gewisse Kenntnis der Kreditwirtschaft wäre von Vorteil

Bis in die jüngere Vergangenheit gelang auch in Griechenland ein Nebeneinander dieser beiden Versorgungsformen, wenn auch die Anforderungen an die wenig bewegliche Klientelwirtschaft stiegen. Zerstört wurde dieses Nebeneinander durch eine Entscheidung, die in der Tat deutsche Politiker fällten: Gerhard Schröder und Joschka Fischer beschlossen, eng befreundet mit führenden griechischen Politikern, Griechenland 2001 in den Gültigkeitsraum der eben erst geschaffenen Euro-Währung aufzunehmen - die später so beklagten statistischen Fälschungen waren nur eine großzügig übersehene Begleiterscheinung. Die Auswirkungen der Entscheidung waren bald selbst in kleinsten Dörfern Kretas oder Samothrakes zu besichtigen: Haushalte statteten sich dank billiger Kredite mit Konsumgütern aus, der Hausbau boomte, Unternehmen stürzten sich in fremdfinanzierte Projekte. Im nun vergrößerten, gesamteuropäischen Kreditrahmen fiel die unverhältnismäßig gestiegene Verschuldung lange nicht auf. Erst die Erschütterungen der Finanzmarktkrise zeigten dann das Missverhältnis.

Hier wäre nun die Kenntnis finanzwirtschaftlicher Prozesse von Vorteil. Der Geldkreislauf, der in den vergangenen Jahrhunderten der Kapitalakkumulation aufgebaut wurde, ist im Kern ein Kreditkreislauf. Er wird getrieben vom Vertrauen in ständig neue, zukünftige Möglichkeiten der Wertschöpfung durch knappe Güter. Auf Erschütterungen des Vertrauens reagieren alle Beteiligten empfindlich - Sparer beim Kauf von Aktien genauso wie Banken bei der Bewertung von Sicherheiten. Der plötzliche Vertrauensschwund hat nicht nur Griechenland, sondern viele andere Länder in ähnlicher Weise getroffen. Erst in dieser Situation wurde offenbar, was seit Max Weber zum Wissensbestand der Wirtschaftssoziologie gehört: Das Funktionieren einer an Leistungen orientierten Wirtschaftsform setzt Zweckrationalität voraus. Die Marktteilnehmer müssen füreinander kalkulierbar sein, und Vertragssicherheit muss informelle Macht brechen können.

Griechenland war eines von vielen Ländern im Euro-Gebiet, die nach der Finanzmarktkrise mit den aufgelaufenen Schulden konfrontiert wurden und einen Ausweg aus der Notlage finden mussten. Einige Länder schafften das ohne Hilfsprogramme, andere nützten die Programme zeitweise. In Griechenland war die Bereitschaft, traditionelle Geschäftsformen zu ändern, besonders gering. Die Intervention derjenigen Institutionen, die die Notkredite verliehen hatten, war entsprechend stärker und schroffer, und sie war und ist sicherlich wenig angepasst an die lokalen Verhältnisse. Aber die grundlegenden Anforderungen sind nicht so empörend, wie Lessenich und andere Kommentatoren das darstellen. Wären Haushaltsdefizite, Wettbewerbsunfähigkeit, Regulierungseingriffe, verstaatlichte Betriebe, Lohnstreiks zu Lasten Dritter und rigide Arbeitsmarktregeln etwa bessere Bedingungen für "gesellschaftliches Glück"?

Zweifellos ist der Schritt von der traditionellen Wirtschaftsform zu einer, in der Kreditforderungen nicht als Drohung, sondern als erwartbare Leistungen verstanden werden, in Griechenland besonders weit. In einem Land, in dem die Steuerfreiheit der Reeder Verfassungsrang hat und die Versorgungsleistungen, die in der Vergangenheit zugesagt wurden, längst unbezahlbar sind, ist die Anpassung an die neuen Spielregeln zwangsläufig schmerzhaft und ungerecht. Dennoch war das Land Ende 2014 so weit, dass die produzierende Wirtschaft wieder zu wachsen begann. Genau zu diesem Zeitpunkt gelang es, die Regierung zu stürzen und einer Partei zur Mehrheit zu verhelfen, die die Opposition zu den Reformmaßnahmen und das Beharren auf einem Schuldenschnitt zu ihrem Programm gemacht hatte. Die Folge war einerseits panikartige Kapitalflucht, andererseits eine Form der politischen Auseinandersetzung, die gezielt Meinungs- und Interessenunterschiede der Euro-Länder zu instrumentalisieren versuchte.

Es hilft den Menschen in Griechenland nicht, Utopien zu beschwören

Der Schuldenschnitt wurde zum Symbol des Widerstands gegen Mächte, die - in der Sprache der alten Familienbeziehungen - das Land "demütigen" wollten. Dabei war der virtuelle Schuldenschnitt mittels ungewöhnlich langfristiger Rückzahlungsfristen bei winzigen Zinssätzen längst vollzogen. Allein der Schein einer Fälligkeit in ferner Zukunft wird erhalten, weil der Geldstrom empfindlich reagiert, wenn er formell abgeschnitten wird und dann die Bilanzen der vielen beteiligten Unternehmen und Institutionen angepasst werden müssen. Das Rauschen des Geldstroms in den Größenordnungen, von denen unser Wohlstand abhängt, ist eben keineswegs selbstverständlich.

So ist es offenbar gelungen, Unterstützer zu mobilisieren, die keine rhetorischen Mittel scheuen, um diejenigen Akteure zu verdammen, die nicht bereit sind, die griechische Rechnung großzügig - wieder ein Begriff aus der Klientelwirtschaft - zu begleichen. Stephan Lessenich bemüht dafür den Vergleich mit dem Kolonialismus. Aber was rechtfertigt diesen Vergleich? Der Kolonialismus europäischen Typs, im Kongo auf die Spitze getrieben vom belgischen König Leopold II., operierte mit der Versklavung der Bevölkerung und dem Raub der einheimischen Rohstoffe. Der Kolonialismus amerikanischen Typs war und ist geprägt von Marionettenregierungen und Monopolunternehmen, die sich die im Land erwirtschafteten Gewinne aneignen.

Aber die Geschichte der Ausbeutung Mexikos, Guatemalas oder Chiles ist mit der Geschichte der Griechenland-Krise nicht zu vergleichen. Im Fall von Griechenland strömten die Güter in das Land; die "Ausbeutung" besteht darin, auf dem Bezahlen der Rechnungen in ferner Zukunft zu bestehen. Die Regierung ist eindeutig selbst gewählt, auch wenn Tsipras' Zustimmung zur Zusammenarbeit durch die Anspielung auf seine "Kreuzigung" zum metaphysischen Ringen der Kräfte des Lichts mit denen der Finsternis stilisiert wird. Wenn da von "Geiselhaft" die Rede ist - wieder eine Anleihe aus einem ethisch aufgeladenen Bereich -, dann ließe sich diese Bezeichnung mit ähnlicher Grobschlächtigkeit in die gegenteilige Richtung wenden: Die Strategie der griechischen Regierung hat die anderen Euro-Länder in eine Situation gebracht, in der die politischen Gefahren eines Zerfalls der Währungsunion so groß geworden sind, dass die 80 Milliarden Euro des nächsten Rettungspakets als Lösegeld aufgebracht werden müssen.

Es ist zweifellos ehrenwert, dass sich Stephan Lessenich um das Schicksal von Millionen Menschen kümmern will. Aber diesen Menschen ist nicht damit gedient, die Hoffnung auf gesellschaftliche Lösungen zu schüren, bei denen die Leistungsfähigkeit einer Wettbewerbsgesellschaft durch diffuse und utopische Solidaritätsformen ersetzt wird. Hier tritt Glaube, sei er romantisch oder ideologisch motiviert, an die Stelle sozialwissenschaftlicher Analyse.

Michael Hutter ist Ökonom und Soziologe. Er lehrte an der Universität Witten/Herdecke und ist emeritierter Professor der Technischen Universität Berlin und am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB). Schwerpunkte seiner Forschung sind die Geldtheorie sowie das Verhältnis von Kultur und Wirtschaft.

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