Schriftstellerin in Nazi-Zeit:Ina Seidel macht Schule

Lily-Braun-Schule

„Die kommende Mädelgeneration soll kerngesund, charaktervoll und opferbereit sein“, lautete das Motto des Lyceums Berlin-Spandau im Dritten Reich. Folglich benannte man sich nach der Hitler-Verehrerin Ina Seidel.

(Foto: Regina Schmeken)

Die Autorin schrieb Bestseller und pries Hitler - trotzdem wird ihr Name mancherorts immer noch geehrt.

Von Willi Winkler

Im August 2012 hatte sich der Bezirksausschuss von Neviges in der Stadt Velbert nicht nur mit der Frage zu befassen, ob eine öffentliche Toilettenanlage zu bezuschussen sei, auch war, an einem anderen Ort, eine "Vollgastronomie" abzulehnen, noch wichtiger aber war der Beschluss, den Straßennamen am Ina-Seidel-Weg zu ändern.

Die Entscheidung, in der Urlaubszeit und in Abwesenheit der Ina-Seidel-Befürworter gefällt, hielt nicht lange und wurde bald wieder gekippt. Die Diskussion um den richtigen Namen ging weiter. Vier Jahre später einigte man sich schließlich auf einen Kompromiss, der Anwohnern eine andere Adresse und die Kosten für neues Briefpapier ersparte: Der Name sollte bleiben, aber durch das Schild "Deutsche Dichterin, wegen ihrer Haltung zum Nationalsozialismus umstritten", ergänzt werden.

Bereits vier Jahre zuvor hatte man in St. Augustin, 80 Kilometer weiter im Süden, aber ebenfalls im Bundesland Nordrhein-Westfalen, die Schilder an der Ina-Seidel-Straße nicht bloß ergänzt, sondern sogar noch um einen wichtigen literaturhistorischen Hinweis erweitert: "Deutsche Dichterin, wegen ihres Wirkens in der NS-Zeit umstritten, distanzierte sich in den Nachkriegsjahren von ihrer früheren Haltung".

"Herz" reimte sie auf "Winterschmerz" reimt, "berufen warst" auf "neu gebarst"

Die deutsche Dichterin Ina Seidel (1885 bis 1974) wird nicht mehr gelesen. Von ihrem einst hundertausendfach verkauften Roman "Das Wunschkind" (1930) hat sich am ehesten die gemeine Bemerkung des Kollegen Werner Bergengruen erhalten, der die Autorin das "Glückwunschkind" nannte, weil sie von 1933 an mehrfach sich und Deutschland zu seinem und ihrem Führer gratuliert hatte.

Für den Literaturhistoriker Jan-Pieter Barbian hat sie "publizistisch zum Gelingen der nationalsozialistischen Diktatur und ihrer Kriegsziele" beigetragen. Das 1939 errichtete Kriegerdenkmal im niedersächsischen Rinteln trägt noch heute einen Spruch aus dem "Wunschkind": "Der Tag wird kommen - und er muss kommen -, da die Tränen der Frauen stark genug sein werden, um gleich einer Flut das Feuer des Krieges für ewig zu löschen."

Wären die Zeiten andre gewesen, Ina Seidel wäre womöglich als Friedensfrau durchgegangen. Allein, die Zeiten waren nicht so, sondern anders, ganz anders.

Ihr Sohn Georg, der unter dem Pseudonym Christian Ferber schrieb, zitiert in seiner Familiengeschichte "Die Seidels" die Hymne "Lichtdom", die sie Adolf Hitler 1939 zum fünfzigsten Geburtstag schenkte:

"Der Lichtdom baut sich bläulich zu den Sternen / und seine Pfeiler stehn rings um das Reich (...) Hier stehn wir alle einig um den Einen, / und dieser Eine ist des Volkes Herz" - worauf sich "Winterschmerz" reimt und "berufen warst" auf "neu gebarst". Es ist einfach furchtbar, aber es stammt unzweifelhaft von einer deutschen Dichterin, die sich mit derlei für Höheres empfahl.

Das kam dann auch. 1938 wurden gleich zwei Schulen nach Ina Seidel benannt, eine in ihrer Geburtsstadt Halle, die andere in Berlin, wo sie bis 1934 gewohnt hatte. "Die Reichshauptstadt hat den Wunsch", schreibt ihr der Reichshauptstadtsbürgermeister Julius Lippert am 2. August 1938, "Ihr erfolgreiches Schaffen zu ehren und das in Ihren Werken zum Ausdruck gebrachte deutsche Wesen einer Frau der weiblichen Berliner Jugend als Vorbild darzustellen."

Er wolle deshalb das Lyzeum in Spandau in "Ina Seidel-Schule, Oberschule für Mädchen" umbenennen und erbitte ihre Zustimmung. "Heil Hitler!" setzt Lippert darunter und erhält umgehend die gewünschte Zustimmung.

Wozu sind die Schülerinnen da? "Um deutscher Kinder Mutter zu werden", schrieb die Dichterin

Eine solche Ehrung kommt nicht umsonst. "Mit dem Sieg des Nationalsozialismus setzte eine starke Förderung der körperlichen Erziehung ein", heißt es in der Festschrift, die 1938 zur 75-Jahr-Feier der Schule erschien. "Die kommende Mädelgeneration soll kerngesund, charaktervoll und opferbereit sein."

Nicht anders als die Studentinnen der Alice-Salomon-Hochschule im heutigen Berlin sollten auch die Mädel der damals kommenden Generation etwas zum Aufschauen haben, und was lag näher als der Blick auf reine deutsche weibliche Literatur. Die Aula werde gerade renoviert, die Hausverwaltung dränge, ob sie so gut sein könne, schreibt Direktor Dr. Pick der Namenspatronin in steilem Sütterlin nach Starnberg, nach der Vorgabe "Glaube und Schönheit" ein paar Sprüche für die große Wand zu formulieren?

Ina Seidel formulierte: "Vaterland! Für dich erglühe / Unsrer jungen Herzen Glaube, / Dass er dir als Schönheit blühe!"

Und auch: "Wozu bin ich auf Erden? / Froh zu gedeih'n - ernst mich zu weih'n, / Deutscher Kinder Mutter zu werden!" Die Sprüche schickte sie mit dem vorschriftsmäßigen "Heil Hitler!" nach Berlin.

Zuvor war die Dichterin selber erschienen und hatte persönlich für die Namenswahl gedankt, denn nie sei ihr "eine schönere, auch noch eine verpflichtendere Zustimmung zu meiner Arbeit geworden", und beschwor aus dem großen Anlass "die große Gemeinschaft des Volkes".

In den folgenden Jahren schickten ihr die Schülerinnen, ihre amtlichen Patenkinder, öfter Gedichte, berichteten brav davon, was sie beim Wandern oder Skifahren erlebt hatten. Sie malten und zeichneten, und die Dichterin sammelte diese unschuldigen Zeugnisse alle in ihrem Schreibtisch in Starnberg, wo heute noch ein Ina-Seidel-Weg an die Ehrenbürgerin der Stadt erinnert.

Im November 1943 waren die Luftangriffe auf die Reichshauptstadt allerdings so schlimm geworden, dass die Kinder aus Berlin fort mussten. Begleitet von Dr. Pick wurden sie in die 1939 eroberte polnische Stadt Weichsel (Wisła) verbracht. Auch davon wurde die Patin unterrichtet. Helga B. aus der Klasse 3 schilderte der Patronin in einem Aufsatz die Abfahrt aus Berlin.

"Es ging durch brennende Straßen, denn in der vorigen Nacht war ein feindlicher Luftangriff auf Berlin gewesen. (...) Und wahrhaftig, einige Minuten später heulte die Sirene. Das Licht wurde ausgemacht. Es war stockdunkel. Der Zug blieb stehen. Wir dachten: 'Wenn der Zug doch bloß abfährt!' Endlich ruckte der Zug an und fuhr ganz langsam. Plötzlich gab es einen Krach, die Flack fing an zu schießen, und Bomben und Raketen flogen über uns hinweg."

Zu antworten war da nichts mehr; den Begleitbrief der Lehrerin hat Ina Seidel nicht mehr geöffnet. Noch kurz vor dem Ende, 1944, wurde sie neben Gerhart Hauptmann und Hans Carossa von diesem Einen, von Adolf Hitler, in die "Gottbegnadetenliste" aufgenommen, die sie von jedem Kriegseinsatz freistellte.

Die Verbindung zu "ihrer" Schule aber hielt über das Ende des Dritten Reiches hinaus. Im September 1946 meldete sich Fritz Franzmeyer, der neue "Leiter der Anstalt", und gratulierte Ina Seidel im Namen der ganzen Schule zum Geburtstag.

Er wolle die Schülerinnen weiterhin "an alles Edle, Gute und Schöne" heranführen, schreibt er, "zu welchem Sie (...) den Weg gewiesen haben", und wünschte ihr die Kraft, "noch viele Jahre ( ...) dem Deutschen Volke zu dienen und der Ina-Seidel-Schule eine Patronin zu bleiben, deren Vorbild der Jugend Anlass zur Nacheiferung sein mag". Die Gefeierte dankte und hoffte auf "die tiefsten und echtesten Lebenskräfte unsres Volkes", diesmal ohne Hitler.

Nur zwei Monate später kam die Nachricht, dass die Schule ihre Patronin loswerden musste. Wieder ein Beschluss des Magistrats, die Schule beugte sich widerwillig. Die SPD stellte den Bezirksbürgermeister, deshalb sollte künftig die 1916 verstorbene Frauenrechtlerin Lily Braun Namensgeberin werden.

Auch im Jahr 1946 spricht der neue Schuldirektor noch von "volklicher Gemeinschaft"

Bei der Umwidmungsfeier zitierte Franzmeyer aus Ina Seidels Brief, in dem sie sich "Wundergläubigkeit und fehlenden Wirklichkeitssinn" vorgeworfen hatte, und findet dann einen mustergültigen Übergang in die neue Zeit: "Auf eine völlig andersgeartete Ebene und auf Wege, denen sich keine von Ihnen entziehen darf, wenn sie Wert darauf legt, dass sie mit hineingebaut wird und dass sie sich selbst mit hineinbaut in das neue Haus volklicher Gemeinschaft, welches wir über den Trümmerhaufen einer unseligen Zeit aufzurichten haben, führt uns das Werk Lily Brauns." Der Direktor sprach wirklich von "volklicher Gemeinschaft".

Eugen Gomringers harmlose Verse über Frauen und Straßen, die den heutigen Mädchen an der Alice-Salomon-Hochschule so missfallen haben, sind eine Wohltat dagegen.

In den 150 Jahren ihres Bestehens ist die Schule auf insgesamt zehn Namen gekommen. Auch auf mehrfache Anfragen wollte sich jedoch die heutige Leiterin Ulrike Kaufmann nicht dazu äußern, wie mit der wechselhaften Geschichte ihrer Schule umgegangen wird. Was wurde etwa aus den Sprüchen, die Ina Seidel 1939 für die Aula dichtete?

Die Aula und mit ihr die Verse von deutschem Glauben an deutsche Schönheit wurden von englischen Bombern zerstört, heißt es, womöglich sogar von genau jenen, die Helga B. in ihrem Brief von 1943 erwähnt hat.

Der Wirt in Ödön von Horváths Volksstück "Italienische Nacht" (1931) wird zum Schluss plötzlich ganz "verträumt": "Ich denk jetzt an meinen Abort", schwärmt er seinen Gästen im Suff vor. "Siehst, früher da waren nur so erotische Sprüch an der Wand dringestanden, hernach im Krieg lauter patriotische und jetzt lauter politische - glaubs mir: solangs nicht wieder erotisch werden, solang wird das deutsche Volk nicht wieder gesunden -". Horváth könnte man auch mal wieder lesen.

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