Schreiben über Auschwitz:Die Proben des Chemikers Primo Levi

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Noch immer beeindruckt die unzynische, ruhigklagende Wärme seines Erzählens: Primo Levi um 1980.

(Foto: imago/Leemage)

Einige Texte des italienischen Holocaust-Überlebenden erscheinen erstmals auf Deutsch. Seine Genauigkeit ist einprägsam, es sind die Details, die man nicht mehr los wird.

Rezension von Gustav Seibt

Primo Levi starb 1987 in demselben Haus, in dem er 1919 zur Welt gekommen war und fast sein ganzes Leben gewohnt hatte: Turin, Corso Re Umberto 85. Er führte das unauffällige Leben eines Familienvaters und leitenden Angestellten.

Bis zum Schluss lebte er mit seiner Frau bei der eigenen Mutter, was in Italien nicht ungewöhnlich ist, und war als Chemiker in einer Lackfabrik tätig, zuletzt als technischer Direktor. Die Wohnung war eine Mitgift der Großmutter gewesen.

Die Levis waren eine bürgerliche Familie, Geschäftsleute, Ingenieure, gebildet und kulturinteressiert. Wenn der junge Primo Levi sich ein Buch wünschte, dann kaufte es ihm sein Vater umgehend.

Man las schon in den Dreißigerjahren moderne Autoren wie Thomas Mann, Faulkner, Dos Passos, sogar den antisemitischen Céline. Als Primo eingeschult wurde, konnte er bereits lesen. Die Levis waren Juden, die sich sonst in nichts vom liberalen Bürgertum unterschieden, das die soziale Trägerschicht des italienischen Nationalstaats darstellte.

Eigentümlich war ihnen weniger eine konventionell gewordene Religiosität als ihre eher unkatholische Bildungsbeflissenheit. Der von Götz Aly analysierte Neidantisemitismus, der sich in Europa im späten 19. Jahrhundert ausbreitete, spielte in Italien eine geringe Rolle, trotz massiver klerikaler und bald auch modern-rassistischer Propaganda gegen die Juden.

In Italien gab es jüdische Minister, die Juden gehörten zu den Gewinnern des Risorgimento, das, anders als die deutsche Nationalbewegung, lange Zeit liberal geblieben war.

Selbst jüdische Faschisten gab es, obwohl der Faschismus das Klima für die Juden rasch verschlechterte, schon bevor 1938 die deutschen Rassengesetze in großen Teilen übernommen wurde. Da Primo Levi sein Studium schon begonnen hatte, durfte er es abschließen und konnte sogar noch promovieren.

Levi gab an, Jude zu sein - weil er hoffte, besser behandelt zu werden

Verhaftet wurde er 1943 zunächst als Mitglied der Resistenza. Bei seiner Verhaftung gab er an, Jude zu sein, weil er hoffte, als solcher besser behandelt zu werden, denn als Widerstandskämpfer. Das stimmte auch, bis die Deutschen das Regime im Land übernahmen.

Primo Levi war vom 26. Februar 1944 bis zur Befreiung am 27. Januar 1945 in Auschwitz. Dass er diesen Ort nie mehr hinter sich lassen konnte, auch als er sein Leben am Corso Re Umberto wieder aufgenommen hatte, bezeugen Werke, die zu erschütterndsten Zeugnissen des 20. Jahrhunderts gehören.

Dabei sprechen einige von ihnen durchaus auch von Befreiung und Heilung. "Ist das ein Mensch?", das Buch über Auschwitz, wird gefolgt von der "Atempause", dem Bericht von der langen Heimfahrt durch Osteuropa zurück nach Turin - ein heiteres, oft burleskes Buch, das finster endet, weil am Schluss Albträume wiederkehren, in denen sich die Appelle von Auschwitz ewig wiederholen.

Auf die Hölle folgt erst die Rückkehr ans Licht, das Purgatorium, doch dann muss der Erzähler wieder zurück in die Hölle, die er nie mehr ganz verlassen kann. Das Paradiso fällt aus.

Levi kam wieder nach Hause, aber zu Hause starb er nicht friedlich, sondern in einem Akt der Verzweiflung. Am 11. April 1987 stürzte er sich in Corso Re Umberto 85 vom dritten Stock hinunter ins Treppenhaus. Seine uralte Mutter lebte zu diesem Zeitpunkt noch.

In den vierzig Jahren des Überlebens war Primo Levi nicht nur Chemiker und Schriftsteller, sondern auch Zeitzeuge, der viele Gelegenheiten nutzte, um die Wahrheit über Auschwitz zu sichern.

Höllische Binnenrationalität der Organisation von Auschwitz

Das dokumentiert ein 2015 erschienener, jetzt ins Deutsche übersetzter Band, mit Berichten, Zeugenaussagen für Prozesse, Ansprachen und Artikeln. Zu drei wichtigen Ermittlungen trug Levi bei, gegen Rudolf Höß, Josef Mengele und Adolf Eichmann. Er sprach vor Schülern und verfasste Gedenkartikel für Zeitungen.

Das wichtigste Zeugnis des Bandes ist ein schon Ende 1945 für die sowjetische Militärverwaltung erstellter Bericht über die "hygienisch-medizinische Organisation des Konzentrationslagers für Juden in Monowitz", den Levi und sein Lagergenosse, der Arzt Leonardo de Benedetti gemeinsam verfassten und 1946 publizierten.

Monowitz war ein Ableger von Auschwitz, er diente der IG Farben. Levi und De Benedetti überlebten das Lager als Fachleute, die eine Zeitlang von den schwersten körperlichen Strapazen befreit waren.

Der medizinisch-naturwissenschaftliche Blick des Textes legt die höllische Binnenrationalität der Organisation des Lagers auch außerhalb der eigentlichen Vernichtung frei. Die inhaftierten und zusammengepferchten Menschen werden durch Sklavenarbeit, Schlafentzug, Kälte, Hunger und Verweigerung von Hygiene systematisch entmenschlicht, zu gehetzter, hungernder, frierender, zitternder, entzündeter, mit Wunden bedeckter, übel riechender Biomasse reduziert.

Schritt für Schritt entfaltet der Text ein ausgeklügeltes System der Erniedrigung und Qual, das als äußerste Konsequenz des Grundgedankens erscheint, den Levi später als Kern jeder faschistischen Ideologie beschrieb: Sie leugnet das grundsätzlich gleiche Recht aller menschlichen Wesen. Wer das am eigenen Leib erfahren hat, der wird es nie mehr los.

Levi hat sich als Autor immer die erste ungläubige Verblüffung erhalten, die der Höllenkosmos Auschwitz in ihm auslöste. Die unzynische, ruhig klagende Wärme seines Erzählens, die ihm eigene Verbindung von Mitleid und Nüchternheit verdankt sich einem schriftstellerischen Talent, das erst allmählich aus dem wilden Drang zu reden herauswuchs, der ihn nach seiner Heimkehr befiel.

Leseprobe

Er hat in seinem autobiografischen Zyklus "Das periodische System" den Moment geschildert, in dem er als Autor frei wurde, als das Schreiben "nicht mehr der schmerzensreiche Weg eines Genesenden, nicht mehr ein Betteln um Mitgefühl und freundliche Gesichter war, sondern ein Bauen bei klarem Bewusstsein, ohne das Gefühl der Einsamkeit: gleich dem Wirken eines Chemikers, der wiegt und teilt, misst und an Hand sicherer Proben urteilt und sich befleißigt, eine Antwort auf das Warum zu geben".

Ein so langer, schön gebauter Satz - auf Italienisch doppelt klangvoll - ist ein existenzieller Triumph.

Die enorme Bildung, die dahinter auch steht, lässt ein Band mit Gesprächen aufscheinen, die Giovanni Tesio unmittelbar vor Levis Tod mit ihm führte. Ergänzt von Maike Albaths kundigem Nachwort bilden sie eine knappe Biografie.

"Zyklon B", angereichtert mit Reizstoffen und Tränengas

Hier werden viele Tatsachen aufgeschlüsselt, die vor allem das wundervolle "Periodische System" historisch lesbar machen. Die Genauigkeit macht Levis Werk so einprägsam; es sind die Details, die man nicht mehr loswird.

So, schon in einer frühen Zeugenaussage, die Mitteilung, dass das "Zyklon B", die Blausäure, mit der die Menschen in Auschwitz erstickt wurden, mit Reizstoffen und Tränengas angereichert war: "Folglich ist zu vermuten, dass die Agonie der unglücklichen zu Tode Verurteilten unglaublich schmerzhaft gewesen sein muss."

Primo Levi: So war Auschwitz. Zeugnisse 1945-1986. Mit Leonardo de Benedetti. Herausgegeben von Domenico Scarpa und Fabio Levi. Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. Carl Hanser Verlag, München 2017. 303 Seiten, 24 Euro. Primo Levi: Ich, der ich zu Euch spreche. Ein Gespräch mit Giovanni Tesio. Aus dem Italienischen von Monika Lustig. Mit einem Nachwort von Maike Albath. Secession Verlag, Zürich 2017. 176 Seiten, 20 Euro. E-Book 15,99 Euro

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