Schottische Literatur:Der Stein, die Luft, das Eis

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Nan Shepherd war eine Pionierin des "Natur Writing": Jetzt gibt es "Der lebende Berg", ihre Hommage an die schottischen Cairngorms, auch auf Deutsch.

Von Nico Bleutge

Wer die Welt anders sehen will, der muss nur den Kopf durch die Beine stecken. Einmal die Aufmerksamkeit gebündelt, schon erscheint alles verkehrt herum, als habe man ein neues Sein hervorgelockt. Zweige, Bäume, die Gebirgsfalten in der Ferne, plötzlich ist kein Fluchtpunkt mehr auszumachen. "Nichts weist einen Bezug zu mir auf, der Schauenden", schreibt Nan Shepherd über diesen Zustand, "so muss die Erde sich selbst sehen." Das mag ein wenig verrückt klingen, vielleicht auch: abgerückt. "Abune himsel'" nennen es die Schotten, entrückt, leicht neben sich stehend. Und diese Entrücktheit fühlt sich an, als sei der Körper von allem losgelöst.

Doch auch wenn eine solche Verfassung für Nan Shepherd die Voraussetzung dafür ist, die Berge ganz in sich aufnehmen zu können - mit schlechter mystizistischer Schwärmerei hat ihr Buch nichts zu tun. Im Gegenteil, die Entrückung führt sie auf einen physiologischen Ursprung zurück, den sie genau erklärt: "Die, die sie erleben, verfügen über eine besondere körperliche Veranlagung, die sich am freiesten und lebendigsten in der Höhe entfaltet. (...) Während sie aufsteigen, wird die Luft dünner und anregender, der Körper fühlt sich leichter an und sie klettern mit weniger Kraftaufwand."

Immer wieder gibt es Momente, in denen durch Frost oder Regen die Landschaft ödes Gelände wird

Die schottische Schriftstellerin Nan Shepherd (1893 - 1981) war eine Dichterin der Landschaft. Nach einigen Romanen und einem Gedichtband schrieb sie vor siebzig Jahren ein Buch über ihre Lust am Durchwandern der Berge. Ein Buch, das in der Tradition des Nature Writing steht, jener literarischen Erkundung der Natur, die speziell in der englischsprachigen Welt sehr beliebt ist. Die Cairngorms im Nordosten Schottlands sind eine Anhäufung von Granit. Einst höher als die Alpen, sehen sie heute aus wie eine Wildnis aus Hügeln und brüchigen Felswänden. Jedenfalls für den Bergliebhaber, der sie zu Fuß durchstreift. Wer das Gebiet auf der Karte betrachtet, den erinnern die Cairngorms eher an ein pulsierendes Herz.

Die Cairngorms im Nordosten Schottlands sind eine Anhäufung von Granit. Nan Shepherd hat sie zur Zeit des Zweiten Weltkriegs durchwandert. (Foto: Westend61/imago)

Über viele Jahre hinweg wanderte Shepherd immer wieder durch diese Gegend, mal alleine, mal begleitet von Freunden. Shepherd hat ihr Buch vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs geschrieben und erst dreißig Jahre später, im Jahr 1977, veröffentlicht. Doch immer noch liest es sich so anregend, dass der Körper ganz leicht wird und man mit wenig Kraftaufwand durch die Seiten und die bildstarken Sätze klettert.

Eine besondere Form des Schauens, ja, überhaupt der Wahrnehmung ist für Shepherd nötig, um die "andere Art von Welt" zu entdecken, die in den Bergen möglich ist. Und jene besondere Form der Wahrnehmung führt zu einer besonderen Form von Beschreibung: "Zerstäubtes, von einem Stein spritzendes Wasser schneidet in den langsam gefrierenden Schnee am Ufer ein und riffelt ihn mit Kristallen oder durchtränkt einen Heidekrautzweig, der zu einem Bäumchen aus purem Glas erstarrt, wie ein raffiniertes Spielzeug." Rhythmische, von intensiven Wahrnehmungsmomenten durchzogene Sätze sind Shepherds Spezialität. Dabei schwelgt sie keineswegs nur in Augenblicken der Schönheit und Verzauberung, sondern markiert immer auch jene Kippmomente, da die Landschaft in Sturm oder Frost übergeht oder tagelanger Regen alles in ein trostloses Gelände verwandelt.

Nan Shepherds Exerzitien dienten dem Ziel, "ein ursprüngliches Erstaunen zurückzugewinnen"

Doch auch wenn sie davon schwärmt, die gegenseitige Durchdringung von Geist und Ort lasse sich allein "erzählend nachvollziehen" - das Erzählen ist nur die eine Seite ihres Buches. Shepherd hat einen gleichermaßen analytischen Zugang zur Wahrnehmung und zur Sprache. In der Darstellung ihrer Kapitel trennt sie die Ebenen voneinander und ordnet sie aufsteigend zum ganzheitlichen Sein des Menschen hin an. Stein, Luft, Pflanzen, Tiere und als Krone der Schöpfung der Mensch - hier klingen biblische, aber auch erkenntnistheoretische Vorstellungen der Scholastik nach, deutlicher vielleicht, als es Shepherd lieb sein mochte.

Durch diese stark analytische Schicht unterläuft sie in der Form jene Vorstellung einer "Einheit des Berges" und der Lebendigkeit, die sie immer wieder beschwört. Andererseits ist die Reflexion das sicherste Mittel, um nicht in esoterischen Kitsch abzudriften. Shepherd stellt ihre Wanderungen durch die Cairngorms nicht als einsame Reisen durch eine zeitlose Welt dar, sondern bedenkt genau die historischen, sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhänge, vom "menschlichen Wirtschaftssystem" bis zu den jungen Menschen, die in den Cairngorms aufgewachsen sind und nun von dort wegwollen. Eine solch umfassende Sicht ist eher selten in der Tradition des Nature Writing und macht "Der lebende Berg" zu einem wirklich großen Buch.

Nan Shepherd: Der lebende Berg. Eine Huldigung der Cairngorms. Mit einer Einführung von Robert Macfarlane. Aus dem Englischen von Judith Zander. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2017. 184 Seiten, 20 Euro. (Foto: Verlag)

Das Spannendste aber ist, wie Shepherd euphorisches Wahrnehmen, Spiritualität und Wissenschaft zusammendenkt. Für ihre naturwissenschaftlichen Einsprengsel hat sie sich genau bei befreundeten Wissenschaftlern erkundigt. Gleichzeitig entspringen ihre Exerzitien vor allem dem Wunsch, ein "ursprüngliches Erstaunen zurückzugewinnen".

Wissenschaftliche Weltsicht und Metaphysik finden so zu einer wundersamen Mesalliance: "Je mehr man über das komplexe Zusammenspiel von Bodenbeschaffenheit, Höhe, Wetter und dem lebenden Gewebe von Pflanzen und Insekten lernt (...), an desto mehr Tiefe gewinnt das Geheimnis. Wissen vertreibt das Mysterium nicht." Die Schriftstellerin Judith Zander hat diese Mischung aus Mysterium und Wissen gut ins Deutsche gebracht.

"Der lebende Berg" ist ein Lob der Relativität und eine Feier der Unendlichkeit der Perspektiven. Wer einen unvertrauten Blick erhascht, wer ganz in einer unerwarteten Sinneserfahrung aufgeht, das scheint Shepherd in ihrem Buch spürbar machen zu wollen, der wird infrage gestellt und entdeckt die Welt zugleich neu. Das Bewusstsein muss sich nur öffnen und auf die Berge und ihre Strukturen einlassen. Was ihm winkt, ist nicht weniger als eine gesteigerte Form von Sein: "Es handelt sich, wie bei jeder Schöpfung, um vom Geist befruchtete Materie: aber das Ergebnis ist geistige Lebendigkeit, ein Leuchten im Bewusstsein."

© SZ vom 16.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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