Schluss mit dem Design-Quatsch!:Kill Billy

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Form folgt Funktion. Der Zweck heiligt die Form. Es ist aber nun an der Zeit, mit diesem Mythos zu brechen. Das bessere Leben fängt mit allem an - nur nicht mit dem richtigen Design. Denn das ist auch nur verkapptes Ornament.

Thomas Steinfeld

Von allen Moden der Inneneinrichtung, die im vergangenen Jahrhundert durch die deutschen Haushalte zogen, war nur eine beständig, und das von Anfang, von den zwanziger Jahren an: der Funktionalismus. Verschwunden ist der hellblaue Sessel mit den ausgestellten Beinen aus den sechziger Jahren, die Sofalandschaft aus orangefarbenem Cord aus den Siebzigern, das zur doppelten Kurve geschwungene Bücherbrett aus den Achtzigern. All diese Moden waren als Moden für den schnellen Austausch geschaffen, und die jeweiligen Kapriolen des wandelbaren Geschmacks werden nicht wiederkehren.

Wenn es in der modernen, technischen, ganz und gar marktwirtschaftlichen Welt etwas Biedermeierliches gibt, dann ist es die Überzeugung, dass die Zweckmäßigkeit nicht nur ästhetisch, sondern auch lebenspraktisch produktiv zu werden hat. (Foto: N/A)

Geblieben hingegen ist der Hocker von Max Bill, der elektrische Steckkontakt aus der Ulmer Hochschule für Gestaltung, das Leitersystem von String, der Freischwinger von Marcel Breuer, der Ameisenstuhl von Arne Jacobsen, die Küchenuhr von Braun und ein schlichtes Regal in Kiefern- oder Birkenfurnier namens ¸¸Billy" - ein Mobiliar der einfachen geometrischen Formen und der simplen Zweckerfüllung, so scheint es, ein Interieur des Nützlichen und schon deshalb nicht Vergänglichen.

Von ¸¸gutem Design" ist bei solchen Gegenständen gern die Rede, und das Attribut ¸¸gut" hat hier einen doppelten Sinn: Ebenso, wie damit eine Vollendung des Handwerks bezeichnet wird, erhebt es das auf diese Weise gelobte Produkt in den Stand einer moralischen Überlegenheit. Das Zweckmäßige sei das Ehrliche, das Echte und Vernünftige, wird behauptet, und das heißt auch, dass man ihm, streng genommen, nicht widersprechen kann. Mit dem Funktionalismus hat sich die Aufklärung im bürgerlichen Interieur breit gemacht, und wie immer ist ihr Feind die Lebenslüge gleich welcher Art und Form: Sie richtet sich gegen den Versuch, das Reich des Privaten vor der Außenwelt zu schützen, gegen das Biedermeier, die Übergardine und den Plüsch, gegen das Überflüssige, gegen das Dunkle, Zurechtgemachte und das Gekünstelte. Vollkommene, erstrebenswerte, reine Dinge sollen den Menschen umgeben, und an ihnen soll er lernen, bewusst, effizient und vernünftig mit seiner Welt umzugehen.

Denn wenn es in der modernen, technischen, ganz und gar marktwirtschaftlichen Welt etwas Biedermeierliches gibt, dann ist es die Überzeugung, dass die Zweckmäßigkeit nicht nur ästhetisch, sondern auch lebenspraktisch produktiv zu werden hat. Die Branche, die sich Design nennt, lehrt der Grazer Philosoph Andreas Dorschel, ¸¸hat ihre Geschäftsgrundlage in nicht unbeträchtlichem Maße, ja vielleicht überhaupt darin, eine Kundschaft, die bereits alles hat und demzufolge nichts mehr braucht, kraft der schieren Macht der ästhetischen Erscheinung ein ums andere Mal zur gefährlichsten, weil freiwilligen Abhängigkeit zu verleiten: der Begehrlichkeit."

Die Tatsache, dass eine Kaffeekanne von Georg Jensen, ein schlichtes, metallenes Rohr mit einem flachen Deckel, als ausgezeichneter, ja erhabener Gegenstand, als ein Stück beseelten Hausrats, behandelt wird, dass sie in Vitrinen, ja Museen steht und in Enzyklopädien unter dem Titel ¸¸Klassiker der Moderne" abgebildet wird, sie spricht allen in diesem Gegenstand selbst enthaltenen Ansprüchen auf Funktionalität ebenso blanken Hohn wie die neuerdings um sich greifende Manie, gewöhnliche Industrieprodukte mit Seriennummern zu versehen und als ¸¸limitierte Auflage" der Einzigartigkeit von Kunstwerken anzunähern.

Diese Gegenstände seien ¸¸Kult", versichert der landläufige Kulturjournalismus, und damit ist gemeint, dass an diesem Punkt eine gesichert vorhandene, allgemeine Bedeutung nur noch ratifiziert werden müsse. Sie sei garantiert und müsse nicht mehr entwickelt werden. Aber was ist ein ¸¸Kult"? Wieso ergreift er den einen Gegenstand und den anderen nicht? Was begründet diesen Animismus?

Die meisten Gegenstände des heute kanonisch gewordenen Funktionalismus stammen aus der klassischen Periode der Massenfertigung, aus der Hohen Zeit der maschinellen Produktion, aus dem frühen, allenfalls noch aus dem mittleren zwanzigsten Jahrhundert. Sie sind dem Gedanken verpflichtet, leicht und billig herzustellen und leicht handhabbar zu sein. Sie sind Fossilien der Moderne. Dem Bauhaus und seinen Filialen gilt dabei eine besondere Vorliebe. Denn es kommt durchaus darauf an, dass man den beseelten Gegenständen die Herkunft aus der industriellen Produktion ansieht - es soll Klarheit herrschen über die Bedingungen der Entstehung, und das Bauhaus kommt diesem Ideal offensichtlicher Funktionalität in Herstellung und Gebrauch besonders weit entgegen.

Wenn jüngere Gegenstände von diesem Animismus ergriffen werden, handelt es sich dabei in der Regel um Maschinen von hoher Komplexität, die ihre technische Vollendung erst später erlebten - wie das Telefon, die Stereoanlage oder der Computer. Der große, runde, weiche Polstersessel, der zwar industriell gefertigt wird, aber seine Herkunft aus der Fabrik verbirgt und also pures Handwerk vorspiegelt, er erfüllt solche Bedingungen gerade nicht. Deswegen ist er meistens auch billig, während das für den Freischwinger aus Stahlrohr von Marcel Breuer gerade nicht gilt.

Dass der womöglich größte Teil dieser Funktionalität ein Traumgebilde und den Prüfungen des täglichen Betriebs nicht gewachsen ist, spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle. ¸¸Form follows function" lautet der von Louis H. Sullivan, einem amerikanischen Architekten der Jahrhundertwende, geprägte erste Glaubenssatz des Funktionalismus. Der Satz ist, auf seinen Wahrheitsgehalt hin überprüft, ein mit Absicht begangener Irrtum, seiner Aufgabe nach betrachtet, eine magische Formel. Denn die eine Funktion, nach der sich die Form eines Gegenstandes richten sollte - es gibt sie nicht. Keine Funktion tritt nur im Singular auf. Nicht einmal ein Schraubenzieher bleibt davon verschont, als Hammer, als Blumenstütze, als Schaber, Gabel, Mordinstrument, als Ausweis handwerklicher Kompetenz, ja sogar, professionell gestaltet und mit den Insignien eines bekannten Designers ausgestattet, kann er als Symbol von gutem Geschmack und mehr oder minder großer Zahlungsfähigkeit benutzt werden. Trotzdem werden die Theoretiker des Designs und der zeitgemäßen Architektur nicht müde, ihn wie ein Mantra vor sich herzutragen und bei jeder Gelegenheit zu zitieren. Die beseelten Gegenstände eines modernen Haushalts sind weitaus weniger funktionalistisch, als dass sie Verbeugungen vor einem Ideal des Funktionierens wären. Sie sind Huldigungen an die Technik, so wie der Historismus eine Huldigung an die Vergangenheit war. In diesen Huldigungen liegt die Wahrheit jenes Satzes.

Die Ursprünge des funktionalistischen Designs liegen - nicht nur, aber auch in der Esoterik. Das frühe Bauhaus unterhielt enge Beziehungen zu Okkultismus und Spiritismus, zu Madame Blavatsky und zum ägyptischen Totenbuch, und dabei handelte es sich keineswegs um mehr oder minder verlegene Versuche, die Entscheidung für einen möglichst rationalen Umgang mit dem praktischen Leben durch Ausflüge in den Irrationalismus zu kompensieren.

Wenn der Maler Johannes Itten, von 1919 bis 1923 Formmeister der Metallwerkstatt im Bauhaus, persischen Heilslehren anhing, dann weil er deren Glauben an den ¸¸guten Gedanken, der alles zum Besten meistert" teilte - und diese Begeisterung für die Lebensreform, für eine nach innen gewendete, seelische Umwälzung aller Lebensumstände ist ein ursprüngliches Motiv auch für den Funktionalismus in Architektur und Design.

Von Leichtigkeit ist noch heute oft die Rede, wenn funktionalistisches Design beschrieben wird, von Licht und Luft, von Befreiung und Konzentration auf das Wesentliche, vom Einfachen und Selbstverständlichen. Die Esoterik ist auch aus dem modernen Bauen und Einrichten nicht verschwunden. Im Gegenteil. Aber sie hat - so missionarisch sie nach wie vor daherkommt, so gründlich sie nach wie vor das Ornament verachtet - den eigenen Namen vergessen. Sie weiß nicht mehr und will nicht mehr wissen, dass sie eine Erweckungsbewegung ist, dass sie die Teilhabe an einer besseren, spiritualisierten Gemeinschaft verspricht, die sie durch die Gestaltung von Häusern, Räumen und Einrichtungsgegenständen initiieren will. Sie verlangt einen Sinn für das Wohnen. Gewiss, schon das neunzehnte Jahrhundert war auf den Gedanken gekommen, dass Wohnen einen Sinn haben sollte, und das Plüschsofa, der Gummibaum und das Häkeldeckchen standen ebenso wie die gute Stube für ein Ideal von Lebensführung. Aber zur Erneuerung des Menschen sollte es erst im zwanzigsten Jahrhundert taugen. Die Leuchte von Karl Wagenfeld hat dabei den Kronleuchter nicht überwunden, sondern nur ersetzt.

Am Grunde dieses Spuks liegt der Glaube an einen neuen Menschen - an die Erneuerung der Spezies durch einen neuen Stil, der kein Stil mehr sein sollte, sondern die Sache selbst. Diese Erneuerung hätte kein revolutionäres, durch einen einmaligen Umsturz in die Welt zu setzendes Unternehmen mehr sein sollen. Nicht das Bewusstsein einer Avantgarde sollte hier die Situation beim Schopfe ergreifen, sollte aufbegehren gegen die Macht und die Lage nach eigenem Willen verändern. Der neue Mensch sollte vielmehr allmählich entstehen, durch eine geplante und kontrollierte Veränderung seiner materiellen Lebensumstände nach dem Muster der industriellen Produktion. Ingenieure der Lebensführung gingen hier ans Werk, und ihre Arbeit konzentrierte sich bald auf das, was ein Ingenieur am leichtesten in den Griff bekommen konnte - auf die materiellen, statischen Voraussetzungen des Alltags, auf die Ergonomie des täglichen Lebens, auf das Wohnen. So wie sich die Dinge formen ließen, nach den Maßstäben der Funktion, der Rationalität, der Effizienz, und so, wie sich durch diese Gegenstände, die Räume, diese Einrichtungen der einzelne Mensch formen sollte, so sollte sich am Ende auch die Gesellschaft formen lassen - auch sie ein Gegenstand des ¸¸guten Designs".

Was aber entsteht dabei? ¸¸In Zukunft wird es gesellschaftlich nicht mehr gleichgültig sein, was die Leute mit ihrem Geld machen", heißt es in einer der großen Programmschriften des Funktionalismus aus den dreißiger Jahren, ¸¸welchen Wohnstandard sie haben, welche Lebensmittel und Kleider sie kaufen und, vor allem, in welchem Maß man sich um den Konsum von Kindern kümmert. Die Tendenz weist unter allen Bedingungen auf eine gesellschaftliche Organisation und Kontrolle." Dieser Verbindung von Architektur, Design und Volkspädagogik wohnte ein eigener Totalitarismus inne - ein Totalitarismus nicht nur des Widerstands gegen die Welt, die dem neuen vorausgegangen war, sondern ein Totalitarismus, der nach vorn, in die Zukunft gewandt war und allerlei Unheil anzurichten im Stande gewesen wäre.

Vielleicht sollte man sich darüber freuen, dass der durch die Kraft des Designs entstehende neue Mensch das Projekt einer kleinen, selbsterklärten Elite blieb. Vielleicht sollte man mit Genugtuung zur Kenntnis nehmen, dass der zeitgenössische Funktionalismus seine Herkunft vergessen hat und auch von seiner eigenen Funktion nichts mehr wissen will. Vielleicht sollte man ihn sogar im Unklaren lassen über sein innerstes Geheimnis. Aber, nein, es ist zu schön, es zu verraten: Denn was ist der Funktionalismus, wenn nicht die Abwesenheit des Ornaments? Und was ist die Abwesenheit aller Ornamente - wenn nicht selbst ein Ornament, das prächtigste von allen?

© Quelle: Süddeutsche Zeitung Nr.35, Samstag, den 11. Februar 2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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