Schluss mit Authentizität:Mehr Mut zum Fake

Schluss mit Authentizität: Authentisch? I wo! Aber glaubwürdig.

Authentisch? I wo! Aber glaubwürdig.

(Foto: Screenshots: Youtube/SZ.de)

Alles muss authentisch sein: Oscar-Preisträger, Hollywood-Starlets, Gangsta-Rapper. Dabei ist Authentizität nichts weiter als eine Floskel.

Von Carolin Gasteiger

Hugh Glass friert. Leonardo DiCaprio auch. "The Revenant" machte nicht zuletzt damit Werbung, dass sich der Hauptdarsteller allen Gefahren für die Hauptfigur selbst aussetzte. DiCaprio zitterte am ganzen Leib, ganz echt - und authentisch.

Anderes Beispiel, selbes (Hollywood-)Setting: Jennifer Lawrence trägt für viele ihrer Anhänger das Etikett - entschuldigen Sie die Floskel - "Mädchen von nebenan". Weil sie nicht mit Affären, Skandalen oder Hasstiraden die Klatschspalten füllt, sondern lieber unverblümt ihre Meinung sagt. Authentisch eben.

Von der anderen Seite muss man den Fall Drake betrachten. Viele werfen dem kanadischen Rapper vor, eben nicht authentisch zu sein. Zu weich sei er, das Bürgerkind aus Toronto, das mit seinem Pseudo-Rap den harten Hip-Hop von der Straße verrate (mehr dazu hier). Authentizität? Null.

Ob im Film, in der Musik oder im echten Leben - alle singen die ewige Ode an die Authentizität. Vom Oscarpreisträger bis hin zum Tatort-Kommissar oder der Verkäuferin im Supermarkt. Alles und alle sollen möglichst echt und unverfälscht und wahr sein.

Aber was bedeutet authentisch überhaupt? Im Duden steht: "echt; den Tatsachen entsprechend". Tatsächlich fror DiCaprio in den Wäldern Kanadas bitterlich; tatsächlich kritisiert Jennifer Lawrence lieber Hollywood wegen schlecht bezahlter Schauspielerinnen als mit ihrem neuen Lover zu posieren. Der Wunsch jener, die sich im Stillen nach dem Echten, Wahren, Unverstellten sehnen: Die meinen das ernst, die sind so, wie sie sind. Aber damit machen sich die Authentizitäts-Fanatiker etwas vor.

Wann sind wir selbst schon authentisch, wo wir doch ständig in unterschiedlichen Rollen agieren? Abends auf der Geburtstagsparty setzen wir die gute Miene auf, obwohl uns überhaupt nicht nach Smalltalk und Gesellschaft ist. Wer würde beim ersten Date sein Gegenüber nach fünf Minuten als stinkfad bezeichnen und sich verabschieden? Und dann erst der Job: Karriere-Coachs raten davon ab, im Büro authentisch aufzutreten. Also mal total übermüdet und unkreativ, mal völlig genervt vom in die Tasten hauenden Kollegen. Vielmehr kommt es doch darauf an, seiner professionellen Rolle zu entsprechen. Und das möglichst gut.

Was wir meinen, wenn wir authentisch sagen

Als ob DiCaprio in "The Revenant" nicht auch so hätte tun können, als würde er frieren. Immerhin ist er Schauspieler, der kann das. Als ob Jennifer Lawrences Bodenständigkeitsnummer ihr nicht von ihren Beratern eingeimpft worden wäre - eben weil das Bedürfnis danach in der Öffentlichkeit so groß ist.

In einem Aufsatz im New Statesman steht: "Der Kult um die Authentizität fängt mit der Annahme an, dass die meisten Dinge nicht echt sind." Gehen wir davon aus, dass alles um uns herum auf Lügen basiert und mehr Schein als Sein darstellt? Und wer authentisch ist, sticht eben aus der verlogenen Masse heraus? Genau da liegt die Crux an der Authentizität. Denn im Duden heißt es nach obiger Definition noch: "... und daher glaubwürdig". Denn das ist es, was wir eigentlich meinen, wenn wir authentisch sagen. Wir meinen glaubwürdig.

Aber da besteht ein großer, wichtiger Unterschied. Ist etwa ein Gangsta-Rapper nur authentisch, wenn er aus dem Ghetto kommt? Wenn er Diskriminierung und Gewalt am eigenen Leib erfahren hat? Unsinn. Wenn er glaubwürdig ist, kann er auch Akademikerkind sein - und authentisch zwar nicht in seiner Herkunft, aber in seinen Aussagen. Und die sollten bei einem Künstler schließlich ausschlaggebend sein. Auf seinem neuen Album rappt Macklemore über die Diskriminierung von Schwarzen, und wirkt dabei nicht weniger authentisch als Kollegen wie Kendrick Lamar oder das deutsche Ghettokind Haftbefehl.

Wir können nicht immer und überall authentisch sein, sind wir doch ständig in unterschiedlichen Rollen verfangen. Und diese gilt es möglichst gut auszufüllen - im Job ebenso wie im Privaten. Apropos Job. Auch viele journalistische Texte, die in der Ich-Form verfasst sind, verfolgen diese Strategie. Nach dem Motto: Hey, ich habe das wahrhaftig selbst erlebt. Funktoniert nur nicht in allen Fällen.

In einem Interview mit Jungle World betont der Dramaturg Bernd Stegemann, Authentizität sei eine bürgerliche Erfindung des 19. Jahrhunderts. Und: "Authentizität ist das gelungene Spiel des erzwungenen Lügens."

Wenn aber die Authentizität bereits erzwungenes Lügen impliziert - warum gehen wir dann nicht direkt zur Künstlichkeit über? Stehen dazu, dass sämtliche Dialoge im Dschungelcamp gescriptet sind, DiCaprio nur scheinbar Eiseskälte erträgt und Jennifer Lawrence einfach eine gute Schauspielerin ist, auch oder vor allem abseits des Bildschirms? Das soll nicht heißen, dass wir uns jetzt alle verstellen und unsere Mitmenschen anlügen sollen. Aber einfach akzeptieren, dass vieles eben nicht so ist, wie es aussieht, wäre schon mal ein Anfang. Und auch Täuschungen können lobenswert sein.

Jan Böhmermann wurde soeben mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet - für einen genialen Fake. Aber einen, der verblüffend glaubwürdig war.

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