Schauspielhaus Zürich:Spiel mir den Film vom Foltertod

Milo Rau inszeniert zusammen mit einer Truppe behinderter Schauspieler den Schocker "Die 120 Tage von Sodom" nach Pasolini und Marquis de Sade. Ein Skandal? Mitnichten.

Von Alexandra Kedves

Grobe Hände greifen in die Bauchwunde einer brüllenden Frau. Sie wühlen in den Innereien, zerren ein blutverschmiertes Etwas heraus, und die Kamera zoomt auf den Kloß, projiziert ihn auf die gewaltige Leinwand: Es ist ein Baby. Dürr, zerbrechlich, aber voll entwickelt. Lebensfähig - aber tot. So, wie die vielen Trisomie-21-Kinder, die im Mutterleib totgespritzt werden und das Licht der Welt nie erblicken. Den Zuschauern stockt der Atem, und das nicht zum ersten Mal während dieses zweistündigen Abends "nach Motiven von Pier Paolo Pasolini und Donatien Alphonse François de Sade" in der Schiffbauhalle des Zürcher Schauspiels.

Das soll auch so sein. Schließlich geht der Schweizer Theaterpionier Milo Rau keine einfachen Wege - so brachte er beispielsweise die "Erklärung" des rechtsextremistischen Massenmörders Anders Breivik auf die Bühne, ließ im Kongo vor einem Theatergericht echte Bürgerkriegsverbrecher auftreten und entwickelte mit belgischen Kindern ein Stück über den Fall des Kindermörders Marc Dutroux ("Five Easy Pieces"). Jetzt, in "Die 120 Tage von Sodom", schlägt er sich buchstäblich mit einer Machete - und mit Pier Paolo Pasolinis blutigen Filmfantasien - einen Weg durchs gepflegte Glashaus der Sehgewohnheiten des bürgerlichen Theaters.

Das gelingt ihm gemeinsam mit dem Theater Hora, einer professionellen Theatergruppe von und mit Menschen mit einer geistigen Behinderung. Zusammen Filettieren sie die Geschichte von den faschistischen, zu ritualhaften SM-Sexspielen neigenden Herren von Salò in Mussolinis Rest-Italien 1944. In "Die 120 Tage von Sodom" wird ein Haufen entführter Jugendlicher missbraucht und zu Tode gefoltert; so sah Pasolinis Kritik am konsumkranken Kapitalismus der Siebzigerjahre aus.

Die 120 Tage von Sodom

Kreuzweg à la Pasolini: Die Schauspieler des Behinderten-Theaters Hora stehen für sadistische Szenen zur Verfügung.

(Foto: Toni Suter/T+T Fotografie)

Der Abend sei der "demütige Versuch, klassische Theatermittel und Performance zu versöhnen", so Milo Rau, damit endlich wieder ein Theater entstehe, das "beunruhigt". Und beunruhigt ist man. Aber nicht durch den Horror der sadistischen Szenen und auch nicht durch die unbarmherzigen, grausam langen Nackt- und Halbnacktauftritte der elf geistig behinderten Schauspielerinnen und Schauspieler. Diese sind ganz offensichtlich enthusiasmiert und kontrolliert bei der Sache und beeindrucken mit souveränem Spiel. Alarmierend ist vor allem, dass sich - horribile dictu - eine gewisse, nun ja, Langeweile einstellt, während die Furchtbarkeiten stellenweise fast fließbandhaft vorbeiziehen und die gekonnten, freilich altbekannten Brechungsmechanismen teils arg reflexhaft und routiniert wirken.

Bühnenbildner Anton Lukas setzt auf die eine Seite eine plüschige Guckkastenbühne en miniature, auf der zwei Sessel und ein E-Klavier Platz haben. Im Fond vor der Leinwand steht das Kreuz, an das Julia Häusermann am Schluss genagelt wird; auf der anderen Seite die lange Tafel aus Pasolinis "Salò, oder die 120 Tage von Sodom". Dieses Arrangement bietet nicht nur eine Menge Raum für selbstreflexive Pasolini-Basteleien samt Original-Soundtrack oder Live-Glockenspiel, sondern zum Glück auch für regelrechte Schockwellen - etwa wenn die "normalen" Schauspieler sich in gemeiner Gönnerhaftigkeit zu den klein gewachsenen Behinderten auf den Boden hocken, um mit ihnen zu plaudern. Oder wenn der Blick auf die Körper der Behinderten fokussiert, die nicht dem gängigen Schönheitsideal entsprechen.

Unwillkürlich schrickt man zurück vor dem Zurschaustellen des Unperfekten - und erfährt exakt da die eigene Gewalttätigkeit, den eigenen hierarchisch geprägten Blick, und das in einer Deutlichkeit, die das zur Kenntlichkeit verzerrte Gewaltpanorama auf der Bühne nie erreicht. Gewalt ist halt nicht gleich Gewalt, falsche Gleichsetzungen schaffen eher Distanz. Die überbordende Splatterästhetik samt den permanenten Filmreferenzen zerstreuen die Aufmerksamkeit für das Eingemachte.

Diskutiert wird an diesem Abend auch die Darstellbarkeit von Gewalt. Ikonische Szenen aus dem Film - vom Scheißefressen übers Nägelfressen bis zu den obligaten Vergewaltigungen und Ermordungen - werden angeteast, ausführlich mit den Schauspielern durchgesprochen und daraufhin gespielt. Da berichten die Behinderten von ihren Erfahrungen mit Sex und Liebe, von ihrem Spaß am Theater. Einer von ihnen, Remo Beuggert, der sich besonders für die Special Effects des Splatterkinos begeistert, führt als Regisseur durch dieses Making-of des hochreflektierten Pasolini-Remakes.

Und bisweilen knallen die Künstler des Theaters Hora ihre Lust am Leidenspielen und Quälen so auf die Bretter - "hammergeil!" ist ihr Schlachtruf -, dass der Pasolini-Unterbau eher stört. Die Brechungen entpuppen sich als das eigentliche Highlight des Abends. Auch die vier Mitglieder des Schauspielhauses, die die faschistischen Elitemonster geben müssen - Michael Neuenschwander, Matthias Neukirch, Robert Hunger-Bühler und Dagna Litzenberger Vinet - überzeugen da am meisten, wo sie in ihre private Vergangenheit abtauchen oder von ihren Erlebnissen mit diesem Film sprechen anstatt ihn nachzuspielen. Die Pasolini-Struktur, sie ist nicht tragend, sondern steht ein wenig hinderlich im Weg.

Allerdings soll wohl auch das mit der Langeweile so sein. Milo Rau erzählt von der strukturellen Gewalt in unserer Gesellschaft. Er zeichnet die Maschinerie, die das Euthanasieprogramm der Nazis bis ins individuelle, aber gesellschaftlich erwartete Totspritzen von erkrankten Föten verlängert; in der die Nahrungsmittelspekulationen und der Rohstoffraubbau jährlich, täglich Menschenleben kosten. Einer, der seine "Kritik der postmodernen Vernunft" unter dem Lenin-Titel "Was tun?" veröffentlicht hat, erspart einem da nichts - nicht die Brutalität unserer gewalttätigen Verhältnisse und auch nicht unsere Schuld. Gerade weil der Theatermacher uns nicht entkommen lassen will, zerdehnt er die Vergewaltigungen, das Hochzeitsmahl mit dem Fäkalienfraß, die Untersuchung der nackten Hintern bis ins Unerträgliche. Und man ist beunruhigt von der eigenen Unduldsamkeit. Das dauert und dauert, wenn Julia Häusermann ihren "Arschtanz" vorführt oder Gianni Blumer mit seiner Freundin Fabienne Villiger auf der weißen Matratze Liebe macht. Man ermüdet bald, wenn Noha Badir auf Robert Hunger-Bühler pinkelt, derweil der, als ironischer, masochistischer Fürst, ekstatisch ausgerechnet Paul Celans "Todesfuge" rezitiert .

Ins emotionale Abseits führen auch die angestrengten Meditationen über eine - künstlerische - Erlösung. Als Julia Häusermann schlussendlich blutend am Kreuz hängt, wird jede Hoffnung auf eine Heilsbotschaft abgeschmettert. In der Kunst liegt an diesem Abend keine Rettung.

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