Schauplatz Venedig:Ein Netz unzähliger Bewegungen

Ständig wird in Venedig gebaut, nicht nur, um zu restaurieren. Wohnhäuser werden etwa in Apartments verwandelt, die man dann vermieten kann.

Von Thomas Steinfeld

Es gibt nur wenige Neubauten in Venedig, etwa die Erweiterung des Krankenhauses an den Fondamente Nuove, gegenüber der Toteninsel San Michele. Die letzten größeren Neubauten entstanden in den Fünfzigerjahren: ein paar Verwaltungsgebäude und einige Projekte des sozialen Wohnungsbaus an der Peripherie des centro storico, auf Sacca Fisola oder auf Sant' Elena zum Beispiel. Doch wird hier ständig gebaut, und zwar nicht nur der Restaurierung und Erhaltung historischer Bauten wegen. Vor allem wird umgebaut, meist für neue Zwecke: Wohnhäuser werden in Appartements verwandelt, die sich über Agenturen im Internet an Besucher vermieten lassen, aus Gemüsehandlungen werden Andenkenläden, Fischgeschäfte werden zu Trattorien oder Schnellimbissen. In der vergangenen Woche wurde bekannt, dass der im Stadtteil Cannaregio gelegene Palazzo Donà Giovannelli - dort hing einst Giorgiones "La Tempesta", - in ein luxuriöses Hotel verwandelt werden wird.

Die meisten Baumaßnahmen gegenwärtig in der Stadt sind Derivate einer internationalen Industrie, hauptsächlich in den Bereichen Tourismus und Markenkleidung, die hier ein Territorium mit Projekten bewirtschaftet, von denen manche über viele Instanzen aus der historischen Stadt abgeleitet sind, andere aber nicht. Je mehr man sich dem Markusplatz nähert, desto mehr sind die Straßen gesäumt von Geschäften für Bekleidung, für Brillen, für Schuhe, von Dolce & Gabanna und Burberry, Louis Vuitton, Zegna und Armani. Die avanciertesten Firmen suchen zudem die innige Verbindung zur Stadt: Dass Prada die Ca' Corner della Regina mit ihrer prächtigen Innenausstattung aus dem 18. Jahrhundert restaurierte und als Museum herrichtete, ist nicht nur ein mäzenatischer Akt von erstaunlicher Großzügigkeit. Vielmehr demonstriert dieses Unternehmen auch, welche Umgebung ein Hersteller von schönen Dingen als das ihm angemessene Ambiente betrachtet, im Hinblick auf ästhetische wie historische Geltung.

Eines der letzten Bilder in "Migropolis" (2010), dem einflussreichen Werk des Philosophen Wolfgang Scheppe, zeigt die Brücke über die Lagune, kurz bevor sie die ehemalige Insel mit dem historischen Zentrum erreicht. Das Ortsschild ist auf dieser Fotografie überklebt. Anstatt "Venezia" ist dort "inside only to buy" zu lesen. Der Satz gilt dabei nicht nur für den Vertrieb von vermeintlich exklusiven Markenartikeln, sondern gleichermaßen bis an das untere Ende des Konsums, die Imbissbuden und Andenkenläden. Bis weit hinaus in die abgelegenen Gegenden gibt es Läden mit billigen Masken und Glasfiguren. Nichts von alledem wird in Venedig oder auf Murano hergestellt. Diese Dinge kommen aus den Regionen der Welt, aus denen auch immer mehr Touristen kommen, das heißt: vornehmlich aus China. So entsteht das nur scheinbare Paradox, dass Menschen um die halbe Welt reisen, um - in vermeintlicher Exklusivität - Dinge zu bewundern und zu kaufen, die in ihrer Nachbarschaft hergestellt wurden.

In Venedig treffen die Reisenden auf Reisende anderer Art. Die sind auf weniger bequemen Wegen hergekommen, sie schlafen an elenden Orten, und sie leben in beständiger Angst vor der Polizei: Einige Tausend illegale Migranten halten sich jeden Tag in Venedig auf. Dort bilden sie eine informelle Ökonomie, die es ohne die Ökonomie des Tourismus nicht gäbe - aber auch die Ökonomie des Tourismus braucht die fliegenden Händler und die billigsten Hilfskräfte in Restaurants und Hotels. In diesem Sinne ist Venedig eine Art Knoten in einem Netz unzähliger Bewegungen von Waren, Kapital und Menschen, ein Knoten von exakt bestimmter Textur und genau umrissenem Umfang. Insofern ist eine der ältesten noch lebendigen Städte auch eine der modernsten, wie angenehm oder unangenehm das auch immer sein mag.

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