Schauplatz Paris:Das Würgen der Erinnerung

Jedes Jahr erscheint in Frankreich ein Katalog mit Gedenktagen von nationaler Bedeutung. Der von 2018 wird gerade wieder eingestampft. Der Streit darüber, wessen man gedenken darf, hält an.

Von Joseph Hanimann

Frankreich ist das Land der Vorwärts-Erinnerung, Gedenktage sind ein Sprungbrett in die Zukunft. So erschien wie jedes Jahr das Katalogbuch 2018 mit rund 100 offiziellen Gedenktagen von nationaler Bedeutung, zusammengestellt von einem Historikerkomitee im Auftrag des Kulturministeriums. Zu den Gedenkdaten gehören diesmal etwa der 100. Todestag Claude Debussys oder der 250. Jahrestag der Eingliederung Korsikas ins französische Staatsgebiet. Doch verheddert man sich dabei leicht im Labyrinth zwischen Gedenk- und Feierveranstaltung. Sämtliche Exemplare des dicken Katalogs werden gerade eingestampft. Ein Datum hat über Nacht zu einem solchen Streit geführt, dass die Kulturministerin Françoise Nyssen sich schließlich zum Rückzug durchrang. Gegenstand des Anstoßes ist der 1868 geborene Schriftsteller Charles Maurras.

Dieser reaktionäre Chefideologe eines "Integral-Nationalismus", Anti-Dreyfusard, Gründer der Zeitschrift Action française und Verächter der Republik, der die Wiederherstellung des alten Frankreich "der vierzig Könige" anstrebte, später Befürworter des Vichy-Regimes, gehöre nicht ins offizielle französische Gedenkprogramm, protestierten manche, darunter auch Regierungsmitglieder. Gedenken sei nicht Ehrung, halten andere dagegen und weisen darauf hin, dass Maurras auch von Marcel Proust, Walter Benjamin, Jacques Lacan oder Charles de Gaulle aufmerksam gelesen wurde. Seitdem das Programm von der "nationalen Ehrung" in "nationales Gedenken" umbenannt worden sei, rechtfertigt sich das Auswahlkomitee, wolle Frankreich sich auch der dunklen Seiten seiner Geschichte erinnern. Daran würgt das Land allerdings seit Jahren. 2011 musste der damalige Kulturminister Frédéric Mitterrand aufgrund von Protesten nachträglich den 50. Todestag des antisemitischen Schriftstellers Louis-Ferdinand Céline aus dem Gedenkprogramm wieder streichen. Und gerade hat der Verlag Gallimard eine für dieses Jahr angekündigte kritische Ausgabe von Célines antisemitischen Texten abgesagt. In einer derart bereinigten Erinnerung wird es bald nichts mehr zu streiten geben.

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