Anon trägt die kleine Flasche stolz vor sich her. Den Inhalt hat er selbst produziert, also öffnet er die Flasche feierlich und versichert jedem seiner Gäste in dem Restaurant neben dem Pacific Coast Highway, dass er ihm ein besonderes Getränk eingieße. Es ist Dschallab, ein Gemisch aus Datteln, Traubensirup und Rosenwasser, Anon serviert es auf Eis mit Pinienkernen. "Möge der nächste Nachkomme ein Junge sein", sagt er - und verzichtet auf die Erklärung, ob er das ernst meint. Dann sagt er: "Gutes neues Jahr!" Es ist 14 Uhr.
Silvester beginnt in Los Angeles um spätestens fünf Uhr morgens. Zum einen geht um diese Uhrzeit die Sonne auf - zum anderen ist es nun Mitternacht in Australien, Grund genug also, auf das neue Jahr anzustoßen. Los Angeles ist eine der wenigen Städte, die mindestens ein Restaurant und mindestens eine Bar aus jedem Land der Welt beheimaten. Wem der Sinn danach steht, der trinkt also um fünf Uhr morgens australisches Bier und sieht sich im Eveleigh auf dem Sunset Boulevard im Fernsehen das prächtige Feuerwerk über dem Opernhaus von Sydney an. Um acht Uhr gibt es Xinjiang Black Beer beim Chinesen ums Eck und um 15 Uhr wird im Brat & Bräu mit Kräuterschnaps aufs deutsche Neujahr angestoßen.
Man kann das Rund-um-die-Uhr-Silvester bescheuert finden. Oder feststellen, wie bescheuert das eigentlich ist, an diesem Tag stoisch auf Mitternacht zu warten. Jetzt mal ehrlich: Wie oft hockt man nach dem Fondue gelangweilt rum und wartet darauf, dass dieses ganze Gedöns endlich vorbei ist? Das nämlich führt zum nächsten wunderbaren Brauch in Los Angeles. Das eigene neue Jahr feiert der Angeleno gemeinsam mit den Landsleuten von der Ostküste. Da in jeder handelsüblichen Bar sowieso mindestens 25 Fernseher an den Wänden hängen, wird das Treiben am Times Square auch in die Strandbar am Pazifik übertragen, wo sämtliche Gäste um 21 Uhr gemeinsam "New York, New York" schmettern. Leben und leben lassen, Silvester feiern und Silvester feiern lassen.
Ja, ja, schon klar, Los Angeles ist Schmelztiegel ohne Identität, es gibt nicht wirklich eine Hymne auf diese Stadt und das Nachtleben ist so öde wie Kaugummikauen auf Valium. Na und? Es gibt dennoch wunderbar schrullige Traditionen in dieser Stadt. Die Angelenos feiern den Beginn des neuen Jahres, wenn es dann auch in Los Angeles so weit ist, indem sie das tun, was sie immer um Mitternacht machen: Sie schlafen.