Schauplatz London:Simon Rattles schwierige Rückkehr

Die Londoner begrüßen den neuen Chefdirigenten des London Symphony Orchestra euphorisch. Er selbst ist weniger enthusiastisch. Der Brexit ist dabei nicht das Einzige, was seine Stimmung dämpft.

Von Alexander Menden

Dass Simon Rattles Rückkehr nach 15 Berliner Jahren triumphale Züge tragen würde, war zu erwarten gewesen. "This is Rattle" stand in großen Lettern auf zwei Leinwänden beiderseits der Bühne im Barbican, auf der das London Symphony Orchestra (LSO) Platz genommen hatte. Und die Ovationen, mit denen das Publikum den neuen Chefdirigent des besten britischen Orchesters empfing, waren Vorschusslorbeeren und Konfettiparade in einem. Ein Kritiker schrieb, es habe sich habe sich weniger um ein Einstandskonzert gehandelt als um das "musikalische Äquivalent einer Krönung".

Ein interessanterer und schwierigerer Zeitpunkt für Rattles Rückkehr nach England ist kaum vorstellbar. Als er im März 2015 bestätigte, dass er von 2017 an zunächst ein Jahr lang die Berliner Philharmoniker und das LSO parallel leiten und dann das Londoner Orchester exklusiv übernehmen werde, dachte noch kein Mensch an einen möglichen Brexit. George Osborne war damals Schatzkanzler unter David Cameron und einer der leidenschaftlichsten Befürworter jener neuen Londoner Konzerthalle, die Rattle dem Vernehmen nach zur Bedingung für den Wechsel gemacht hatte.

Mittlerweile hat Premierministerin Theresa May Osborne aus dem Kabinett entfernt; ob die Konzerthalle gebaut wird, ist zumindest fraglich. Vor allem aber steuert das Land auf einen Brexit zu, der chaotisch auszufallen droht. Am Tag nach dem Referendum fragten Musiker des LSO den Dirigenten, ob er auch gewechselt wäre, hätte er dieses Ergebnis vorhergesehen. "Ich wäre außerordentlich skeptisch gewesen", gab Simon Rattle zu. "Aber wir werden das Beste daraus machen."

Das Programm des Eröffnungskonzerts war jedenfalls durch und durch britisch und unapologetisch zeitgenössisch - eine eigens komponierte Fanfare der jungen Komponistin Helen Grime, Thomas Adès' Techno-inspiriertes "Asyla", Harrison Birtwistles Violinkonzert und Oliver Knussens 3. Symphonie. Besonders während des Birtwistle-Stücks, in dessen Verlauf der brillant aufgelegte Solist Christian Tetzlaff in einen musikalischen Dialog mit einzelnen Instrumenten aus dem Orchester trat, entwickelten Rattle und das Orchester eine erstaunlich drängende Energie.

Als crowd pleaser standen am Ende des Programms Elgars "Enigma"-Variationen. Der Nimrod-Satz aus diesem zutiefst persönlichen Stück fand jüngst pathetische Verwendung im Soundtrack von Christopher Nolans Kriegsfilm "Dunkirk" und gehört zum patriotischen Repertoire in England. Bei jedem Crescendo schien es nicht wenige im Publikum vor Vaterlandsstolz aus den Sitzen zu heben. Wie erfolgreich Rattles Wirken in London sein wird, dürfte auch davon abhängen, wie er mit solchen immer dominanter werdenden nostalgischen Impulsen in der britischen Kultur umgeht.

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