Schauplatz London:Echokammer Brexit

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Die liberalen Briten fühlen sich nach dem Brexit in Erklärungszwang - sie wollten das doch gar nicht, versichern sie ungefragt. Die Fremden, die sich eine Existenz aufgebaut haben im Land, denken ans Fortgehen: "Die wollen uns hier nicht."

Von Alexander Menden

Wohin man auch geht, mit wem man auch spricht, es gibt nur ein Thema: Brexit. Wie weit London - oder zumindest der gut situierte, liberale Teil seiner Bevölkerung - vom Rest Englands entfernt ist, wird dabei schon dadurch spürbar, dass es gar nicht so einfach ist, jemanden zu finden, der beim Referendum vergangenen Monat für den Ausstieg des Vereinigten Königreiches aus der EU gestimmt hat.

Aber alle - zumindest diejenigen, die wählen durften - haben eine Art Referendums-Tourette entwickelt. Man muss gar nicht fragen, sobald jemand merkt, dass man Ausländer ist, versichern sie einem geradezu zwanghaft: "Ich habe Remain gewählt!" Eine Verlegerin, die man in Bloomsbury trifft (und deren Eltern 1933 als Flüchtlinge aus Berlin nach London kamen), entschuldigt sich ausdrücklich für das "katastrophale Ergebnis". Während einer Sommerparty in Enfield, bei der die Gastgeber wenig erpicht darauf zu sein scheinen, über Politik zu sprechen, lässt ein pensionierter Architekt es sich nicht nehmen, David Cameron als "schlechtesten Premier aller Zeiten" zu brandmarken.

Es ist, als lebe man in einer Echokammer, in der die eigene Meinung allseitig zu ihnen zurückschallt. Das war schon vor dem Referendum so. Deshalb wiegten sich in der Londoner Mittelschicht vor dem 23. Juni so viele in Sicherheit - wer nur den Guardian las und ausschließlich mit Gleichgesinnten in Berührung kam, für den musste das Ergebnis ein Schock sein. Dieses Ergebnis und die daraus resultierende Fremdenfeindlichkeit, die sich selbst in London manifestiert, prägen nun noch die vertrautesten Routinen des Alltags.

Mit dem Betreiber des kleinen Zeitungsladens unten an der U-Bahn-Station spricht man sonst eher übers Wetter oder über die stetig steigenden Fahrpreise. Jetzt wirkt er deprimiert. Er kam 1968 als Commonwealth-Bürger nach England, als in seinem Geburtsland Kenia Geschäftsleuten indischer Herkunft wie ihm verboten wurde, Handel zu treiben. Damals war London ein sicherer Hafen. Heute sagt er: "Die wollen uns hier nicht." Der polnische Handwerker, der sich hier ein Haus gekauft und eigenhändig so vollendet renoviert hat, wie man es keinem britischen Handwerker zutraut, verkündet: "Wir verkaufen und gehen zurück nach Warschau."

Wer sich ab und zu außerhalb der Metropole umhörte, oder vielleicht sogar in London selbst mal mit einem working class Cockney über Immigration sprach, der konnte schon ahnen, wie das Ganze ausgehen würde. Mit dem Gärtner zum Beispiel, der ein reizender Mensch ist, wenn man ihm nicht gerade Gelegenheit gibt, über them foreigners herzuziehen. "Warum wollen die alle immer nur hierher?", fragt er seit Jahren. Gegenargumente wie das extreme Ungleichgewicht der Flüchtlingsverteilung innerhalb von Europa prallen an ihm ab. Und der Hinweis, man selbst sei ja irgendwie auch nicht von hier, wischt er weg: "Eure Kinder sind hier geboren, die sind weiß und blond - ihr seht doch britisch aus!" Eine Bemerkung die man als zweifelhafte Ehre empfindet in diesen Tagen.

© SZ vom 20.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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