Schauplatz Berlin:Straßenkunst von der Straße geholt

Berlins neuestes Museum heißt "Urban Nation" und zeigt Straßenkunst. Das ist staatlich gefördert und ganz ordentlich geworden. Doch wo sind all die Originale, die so lange das Stadtbild prägten?

Von Lothar Müller

Über die deutschen Fernsehserien wird in Deutschland viel Böses gesagt. Darum gibt es, anders als für Schauspieler, keine Gedenkplaketten für verstorbene Fernsehserien. In einem Eckhaus der Zietenstraße, die in Schöneberg auf die Hochbahntrasse der U2 zuläuft, hatte die "Praxis Bülowbogen" ihren Sitz. Als Dr. Brockmann, verkörpert durch den längst verstorbenen Schauspieler Günter Pfitzmann, sie 1987 eröffnete, war die Graffiti-Kultur schon in Berlin angekommen. Die größte Leinwand der Streetart-Künstler, die Mauer, stand noch. In der Hochbahn, die noch nicht zum Potsdamer Platz fahren durfte, residierte ein türkischer Basar, und an Brandmauern tauchten verballhornte Zitate auf: "Was lange gärt, wird endlich Wut."

Der Philologe Georg Büchmann, Autor des unsterblichen Werkes "Geflügelte Worte", der gut ein Jahrhundert zuvor im Haus neben der Praxis Bülowbogen gewohnt hatte, nahm es gelassen und verwies auf den Eintrag: "tempora mutantur et nos mutamur in illis", vulgo "Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns mit ihnen". Der Spruch hat den Fall der Mauer, die Wiedereröffnung der Hochbahn und das Ende der Praxis Bülowbogen überlebt. Jetzt hat ihm die Straßenkunst ihren Tribut gezollt. Sie hat eine dermaßen steile Karriere hinter sich, dass sie nicht mehr nur Outdoor-Kunst sein will, sondern eine repräsentative Indoor-Dependance braucht. Ein paar Schritte neben der Praxis Bülowbogen, direkt an der Hochbahntrasse, ist sie in ein aufwendig restauriertes Eckhaus eingezogen, in dessen Parterre einst ein Möbelgeschäft residierte. Jetzt residiert hier Berlins neuestes Museum, "Urban Nation".

Seit Jahren fördert die landeseigene Wohnungsbaugesellschaft Gewobag die Straßenkunst, stellt ihr an ihren Hauswänden legale Malflächen zur Verfügung. Jetzt hat sie etwa die Hälfte der 4,5 Millionen Euro bezahlt, die das Museum gekostet hat. Man kann darin viel Pop-Inspiriertes, Psychedelisches, meist Figuratives sehen, der Haupteffekt aber findet in der Outdoor-Welt statt. Unwillkürlich sucht, wer das Museum verlässt, im Stadtraum nach den Geschwistern der Indoor- Straßenkunst, und nach ihren Rivalen. Zu den Geschwistern zählt der schwarze Monstermann auf dem bunt ausgemalten Gewobag-Haus, der auf den Straßenstrich an der Kurfürstenstraße blickt, zu den Rivalen das riesige Werbeplakat eines Sportartikelherstellers oberhalb der Woolworth-Filiale, auf dem einem Marathonmann zähnefletschende Tiere im Nacken sitzen, die exakt ins Beuteschema des Streetart-Museums passen. Die größten Rivalen der Indoor-Straßenkunst und Verwandlung des Stadtraums in ein Gewobag-gefördertes Ausmalbuch sind aber die kahlen Brandmauern, mit ihren Resten alter Werbung und wenigen, fast verblichenen Graffiti, auf die vielleicht noch Dr. Brockmann geblickt hat. Tempora mutantur.

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