Schauplatz Berlin:Letzter Halt Sommermärchen

Zum 10. Geburtstag wird der Hauptbahnhof in eine Kunstinstallation verwandelt, überall entstehen Bühnen. Viel wurde geschimpft über den Glasbau - aber er bleibt der ideale Bahnhof für Berlin.

Von Lothar Müller

Überall werden Bühnen aufgeschlagen. Elektrokabel hängen zwischen den Etagen. In schwarzen Koffern lauern Verstärker auf ihren Einsatz. Das Kollektiv "Tape That" verwandelt den Berliner Hauptbahnhof zu seinem 10. Geburtstag in eine "temporäre Kunstinstallation". Wahrscheinlich gehören die gestapelten quadratischen Schokoladen, die sich als spiralförmige Skulptur dem Glasdach entgegenschrauben, dazu. Am Freitag und Samstag soll groß gefeiert werden. Underground Techno, Elektronische Musik, DJ's, deutsche Musik "mit ehrlichen, poetischen Texten". Und, natürlich, der beliebte Mitmachchor "Singen & Warten".

Hier, am südlich gelegenen Washingtonplatz verschwindet gerade die Pizza-Manufaktur hinter Bühnenzelten und Riesenlastern, die Getränke anliefern. Im absoluten Halteverbot haben die Berliner Wasserbetriebe ein Kastenfahrzeug abgestellt. Es trägt an der Seite, unter einem dunklen Auge, eine Aufschrift, die zu denken gibt "Aufklärungsfahrt". Residiert nicht der Bundesnachrichtendienst am Nordausgang des Bahnhofs, am Europaplatz. Hier mit dem Blick über die Spree hinweg auf die Reichstagskuppel und das Kanzleramt, regiert doch sowieso die Transparenz.

Aber nicht überall. Ein missgelaunter Riese hat in den vergangenen zehn Jahren neben dem Bahnhof Bauklötze gestapelt. Lauter Hotels, von denen wohl nur die Senatsbaudirektorin meint, sie seien hochwertige Architektur. Ein lebendiger Platz ist derweil weder am Nord- noch am Südausgang des Bahnhofs entstanden. Und die Verkehrsführung um ihn herum ist so, dass man selbst beim Abholen älterer Damen, die nicht gut zu Fuß sind, auf das Automobil lieber verzichtet. Wenn die ältere Dame aber ein Taxi nehmen will, muss sie damit rechnen, dass die Wagen eher tröpfelnd eintreffen. Zum Glück gibt es den Mitmachchor "Singen und Warten".

Kurz, der neue Hauptbahnhof ist der ideale Bahnhof für Berlin. Eine Schulung in der Kunst, sich zu orientieren, ein ehrlicher Vorgeschmack auf die Undurchsichtigkeit, in Glasarchitektur gehüllt. Nie sterben in diesem transparenten Labyrinth die Passanten aus, die suchenden Blicks Rolltreppen hinauf und hinunter fahren, den Einstieg hinab zu den Geleisen 1 und 2 oder 7 und 8 zwar nicht finden, aber beeindruckt von den Rundumblicken über das Zeitlupentempo staunen, in dem sich die Aufzüge zwischen den Ebenen bewegen. Mag sein, die Passanten bleiben auf ewig in dem Einkaufsparadies gefangen, das überall um sie wirbt. "Meine Reisen plane ich inzwischen nicht mehr im Voraus. Es läuft sowieso immer anders als man denkt", sagt die lächelnde junge Frau in der Fotoausstellung mit Bahnreisenden aus aller Welt.

Vor zehn Jahren war das Fest zur Bahnhofseröffnung ein Probelauf für das Public Viewing bei der WM 2006. Auf die Heimsuchung der feiernden Menge durch einen Messerstecher folgte damals das Sommermärchen. Jetzt folgt die Auswechslung der Rolltreppen.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: