Schauplatz Berlin:Der Strich wird weiterziehen

Wo früher das gehobene Bürgertum gewohnt hat, nach der Wende aber die Prostitution blühte, macht sich derzeit Abbruchstimmung breit. Ein neues Quartier soll entstehen.

Von Lothar Müller

Seit Kurzem steht am Straßenrand zwischen den parkenden Autos dieser silbrig glänzende Anhängerwagen, der die Bilder auf seinen vier Seiten wie Trumpfkarten ausspielt: Durch die Fenster eines Salons, der mindestens im siebten Stock liegen muss, gleitet der Blick über die Stadtlandschaft hinweg, ein breites Trottoir führt auf hohe weiße Neubauten zu, eine Frau im roten Kleid flaniert über die baumbestandene Szene. Zu ihren Füßen lockt das Angebot: "hochwertige Eigentumswohnungen hier im Kiez!" "Carré Voltaire. Berlin nicht weit von hier, nur ca. 300 Meter."

Die 300 Meter führen an der Apostel-Paul-Kirche vorbei auf die Kurfürstenstraße zu, wo die seit der Wende meist osteuropäischen Sex-Arbeiterinnen aufgereiht stehen, viele von ihnen sehr jung. Das ist hier der traditionsreichste Straßenstrich Berlins. Für die Drogen-Kinder vom Bahnhof Zoo um 1980 war es nicht sehr weit hierher.

An der Ecke, wo der Gebrauchtwarenhandel längst seine Wimpel eingezogen hat, steht derzeit ein kleines Zirkuszelt, auf dem ein Harlekin thront. Der "Berliner Imbiss" im umgebauten Wohnwagen öffnet erst am Vormittag. Große Möbelhäuser, wie man sie eher an Stadträndern erwartet, residieren hier, von riesigen Parkplatzflächen umgeben. "Danke und adieu" sagt eines der Möbelhäuser. Es hat seinen Schaufenstern große Plakate aufgeklebt, die 35 % Preisvorteil versprechen.

Auch den Sexartikel-Shop an der Ecke Kurfürstenstraße/Potsdamer Straße hat die Ausverkaufsstimmung erfasst. Noch trotzt ihr das Billigkaufhaus Woolworth gegenüber. Aber nichts wird in dieser Gegend bleiben, wie es ist. Das Carré Voltaire, in dem 119 Eigentumswohnungen zwischen 4200 und 7400 Euro pro Quadratmeter kosten werden, ist nur eines von mehreren hier geplanten Großprojekten. Die Investoren haben ein Areal entdeckt, das einmal von den Villen des Berliner Bürgertums geprägt war. Seine Söhne, darunter Franz Hessel, haben diesen "alten Westen", der so hieß, seit um den Kurfürstendamm herum der "neue Westen" entstanden war, beschrieben, erinnert, mythologisiert. Den Magdeburger Platz, an dem Walter Benjamin geboren wurde, hat das Bezirksamt im Herbst aus hygienischen Gründen geschlossen. Das Prostitutionsgeschäft hatte hier den öffentlichen Raum im Würgegriff.

Der Straßenstrich wird in ein anderes Viertel ziehen. Die Bewohner trauern ihm nicht nach. Aber vielen ist unheimlich: Was wird aus ihnen, wenn die Prostitution vor ihrem Abgang die Dominanz, mit der sie diese Gegend geprägt hat, ans Carré Voltaire verscherbelt?

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