Salman Rushdie über Gabriel García Márquez:Er glaubte an die Wahrheit von Träumen

Lesezeit: 6 min

Gabriel Garcia Marquez am 06.03.2014 vor seinem Haus in Mexiko-Stadt. (Foto: dpa)

Noch immer ist die Bestürzung über Gabriel García Márquez' Tod groß. Wie kaum ein anderer Schriftsteller verstand er es, die Magie in seinen Erzählungen mit der lateinamerikanischen Wirklichkeit zu verknüpfen.

Ein Gastbeitrag von Salman Rushdie

Gabo lebt. Die außergewöhnlich große Aufmerksamkeit, die dem Tod von Gabriel García Márquez entgegengebracht wird, und die aufrichtige Bestürzung über seinen Verlust, empfunden von Lesern weltweit, sind ein starkes Zeugnis, wie lebendig seine Bücher noch sind. Irgendwo lässt immer noch ein diktatorischer "Patriarch" den Rivalen aufspießen und auf einer großen Platte seinen Gästen zum Dinner servieren; wartet ein alter Oberst auf den Brief, der niemals ankommt; prostituiert sich ein wunderschönes, junges Mädchen für ihre herzlose Großmutter; und erklärt ein sanfterer Patriarch, José Arcadio Buendía, einer der Gründer der Siedlung Macondo, ein an Wissenschaft und Alchemie interessierter Mann, seiner entsetzten Frau, dass "die Erde rund wie eine Orange ist".

Wir leben im Zeitalter von erfundenen, von Ersatzwelten. Tolkiens Mittelerde, Rowlings Hogwarts, das dystopische Universum der Tribute von Panem, Orte, an denen Vampire und Zombies herumschleichen, diese Orte haben ihre große Stunde. Fantasy ist in Mode; doch den schönsten fiktionalen Mikrokosmen der Literatur liegt mehr Wahrheit als Phantasie zugrunde. In William Faulkners Yoknapatawpha, R.K. Narayans Malgudi, und ja, in Gabriel García Márquez' Macondo, wird die Imagination benutzt, um die Realität zu bereichern, nicht um ihr zu entfliehen.

"Hundert Jahre Einsamkeit" ist nun siebenundvierzig Jahre alt und trotz seiner enormen und anhaltenden Beliebtheit hat der Stil des Romans, der magische Realismus, anderen Formen der Erzählung in Lateinamerika Platz gemacht, teils auch als Reaktion auf die schiere Größe von Gabriel García Márquez' Errungenschaft. Der meistbeachtete Schriftsteller der nächsten Generation, der erst vor Kurzem verstorbene Roberto Bolaño, wurde nicht müde zu wiederholen, dass der magische Realismus "stinke", spottete über García Márquez' Ruhm und nannte ihn "einen Mann, der es schrecklich genoss, mit so vielen Präsidenten und Erzbischöfen befreundet zu sein".

Verneigung vor Gabo

Es war ein kindischer Ausbruch, aber er zeigt, dass für viele lateinamerikanische Schriftsteller die Präsenz dieses großartigen Giganten in ihrer Mitte mehr als nur eine kleine Bürde war. ("Ich habe das Gefühl", hat Carlos Fuentes einmal zu mir gesagt, "dass Schriftsteller in Lateinamerika das Wort ,Einsamkeit' nicht mehr benutzen können, weil sie befürchten, die Leute könnten glauben, es sei eine Verneigung vor Gabo. Und ich befürchte", fügte er verschmitzt hinzu, "dass wir auch die Formulierung "100 Jahre" bald nicht mehr verwenden können.") Kein Schriftsteller weltweit hatte einen vergleichbaren Einfluss im vergangenen halben Jahrhundert. Ian McEwan hat Márquez' Vormachtstellung ganz richtig mit der von Charles Dickens verglichen. Kein Schriftsteller seit Dickens wurde so viel gelesen und so innig geliebt wie Gabriel García Márquez.

Der Tod dieses großen Mannes könnte der Angst der lateinamerikanischen Schriftsteller vor seinem Einfluss ein Ende setzen und ihnen ermöglichen, sein Werk außer Konkurrenz wertzuschätzen. Fuentes verwies auf den Einfluss Faulkners auf Márquez und nannte Macondo sein Yoknapatawpha-Land, und das mag der bessere Einstieg in sein Werk sein. Es sind Geschichten über wirkliche Menschen, keine Märchen. Macondo existiert: Das macht seine Magie aus.

Das Problem mit dem Begriff "magischer Realismus", el realismo mágico, ist, dass Menschen, wenn sie ihn aussprechen oder hören, nur die Hälfte davon hören oder meinen - sie sprechen von "Magie", ohne die andere Hälfte zu beachten: "Realismus". Aber wenn magischer Realismus nur magisch wäre, wäre er ohne Bedeutung. Er wäre bloß eine Laune, Literatur, in der - weil alles passieren kann - nichts Wirkung zeitigt. Gerade weil die Magie des magischen Realismus tief in der Realität verwurzelt ist, weil sie der Wirklichkeit entwächst und sie dabei auf wunderbare und unerwartete Weise beleuchtet, funktioniert sie.

"Sobald José Arcadio die Schlafzimmertür geschlossen hatte, dröhnte ein Pistolenschuss durchs Haus. Eine Blutspur drang unter der Tür hervor, durchquerte das Wohnzimmer, rann auf die Straße hinaus, wählte den kürzesten Weg zwischen den ungleichen Gehsteigen, floss kleine Treppen hinab und erklomm Steindämme, fuhr die ganze Türkenstraße entlang, bog rechts um eine erste, dann links um eine zweite Ecke, machte vor dem Haus der Buendía rechtsum, rieselte unter der verschlossenen Tür hindurch, durchglitt den Besuchssalon längs der Wände, um den Teppich nicht zu beflecken . . . und erschien in der Küche, wo Ursula gerade sechsunddreißig Eier für das Brot aufschlug. ,Ave Maria Purissima!' schrie Ursula."

In dieser berühmten Passage passiert etwas absolut Phantastisches. Das Blut eines toten Mannes entwickelt eine Absicht, fast ein Eigenleben und bewegt sich methodisch durch die Straßen von Macondo, bis es vor den Füßen der Mutter zur Ruhe kommt. Das Verhalten des Blutes ist "unmöglich", doch die Passage liest sich wahrhaftig, die Reise des Blutes fühlt sich an wie die Reise der Nachricht vom Tod des Mannes selbst, von dem Raum, in dem er sich erschossen hat, zu der Küche seiner Mutter, und seine Ankunft zu Füßen der Matriarchin Úrsula Iguarán liest sich wie eine große Tragödie: Eine Mutter erfährt, dass ihr Sohn tot ist. José Arcadios Blut kann und muss weiterleben, bis es Úrsula die traurige Nachricht überbringt. Die Wirklichkeit gewinnt im Angesicht des Magischen an dramatischer und emotionaler Kraft. Sie ist mehr, nicht weniger wahr.

Der magische Realismus war nicht García Márquez' Erfindung. Der Brasilianer Machado de Assis, der Argentinier Jorge Luis Borges und der Mexikaner Juan Rulfo waren ihm zuvorgekommen. García Márquez studierte Rulfos Meisterwerk "Pedro Paramo" genauestens, sein Einfluss auf ihn ist vergleichbar mit dem von Kafkas "Verwandlung". (In Pedro Paramos Geisterstadt Comala lässt sich unschwer die Inspirationsquelle für García Márquez' Macondo zu erkennen.) Aber die magisch-realistische Empfindsamkeit ist nicht auf Lateinamerika begrenzt. Sie taucht überall und immer wieder in der Weltliteratur auf, und García Márquez war berühmt für seine Belesenheit.

Charles Dickens' endlose Gerichtsverhandlung Jarndyce gegen Jarndyce in "Bleak House" findet eine Entsprechung in der endlosen Eisenbahn aus "100 Jahre Einsamkeit", die eine Woche braucht, um an Macondo vorbeizufahren. Dickens und García Márquez sind beide Meister der komischen Übertreibung. Dickens' Circumlocution Office, eine Behörde, die existiert, um nichts zu tun, entstammt derselben fiktionalen Welt wie all die trägen, korrupten, autoritären Gouverneure und Tyrannen in García Márquez' Werk.

Alltägliche Metamorphosen

Kafkas Gregor Samsa, verwandelt in ein großes Insekt, würde sich in Macondo nicht fehl am Platz fühlen, wo Metamorphosen als etwas Alltägliches wahrgenommen werden. Auch Gogols Kowaljow, dessen Nase sich von seinem Gesicht loslöst und in St. Petersburg herumwandert, würde sich hier zu Hause fühlen. Die französischen Surrealisten und die amerikanischen Fabeldichter, sie alle gehören zu dieser literarischen Gesellschaft, die inspiriert ist von der Idee des Fiktiven der Fiktion, ihrer Erfunden- und Gemachtheit - einer Idee, die die Literatur von den Grenzen des Naturalistischen befreit und ihr erlaubt, sich der Wahrheit auf wilderen und vielleicht interessanteren Wegen anzunähern. García Márquez wusste sehr gut, dass er zu einer weit verstreuten literarischen Familie gehörte. William Kennedy zitiert ihn so: "In Mexiko läuft der Surrealismus durch die Straßen." Und weiter: "Die lateinamerikanische Realität ist völliger Rabelaismus."

Aber, um es noch einmal zu sagen: Die Höhenflüge der Phantasie brauchen realen Boden unter sich. Als ich das erste Mal García Márquez las, war ich noch nie in einem zentral- oder lateinamerikanischen Land gewesen. Trotzdem fand ich in seinen Büchern eine Wirklichkeit vor, die ich von meinen eigenen Erfahrungen in Indien und Pakistan kannte. In beiden Ländern herrschte und herrscht ein Konflikt zwischen der Stadt und dem Dorf, existieren ähnlich tiefe Gräben zwischen Arm und Reich, Mächtig und Machtlos, Groß und Klein. Beide Länder haben eine mächtige koloniale Geschichte, und in beiden Ländern ist Religion von großer Bedeutung; Gott lebt und, unglücklicherweise, auch die Gottesfürchtigen.

Ich kenne García Márquez' Obersten und seine Generäle, oder zumindest ihre indischen und pakistanischen Kollegen; seine Bischöfe waren meine Mullahs; seine Marktstraßen meine Basare. Seine Welt war meine, übersetzt ins Spanische. Es ist kein Wunder, dass ich dieser Welt verfiel - nicht ihrer Magie, obwohl sie mich als Schriftsteller, der mit den fabelhaften Wundermärchen des Ostens aufgewachsen ist, auch anzog - sondern ihrem Realismus. Aber meine Welt war urbaner als seine. Es ist die dörfliche Perspektive, die García Márquez' Realismus dieses besondere Flair verleiht, das Dorf, in dem Technologie beängstigend, aber ein strenggläubiges Mädchen, das zum Himmel auffährt, vollkommen glaubhaft ist; in dem, wie in den indischen Dörfern, das Wundersame mit dem Alltäglichen koexistiert.

Journalist und Träumer

Er war ein Journalist und verlor nie den Blick für die Fakten. Er war ein Träumer, der an die Wahrheit von Träumen glaubte. Er war auch ein Schriftsteller, fähig zu Momenten des Deliriums und oft der Komik und der Schönheit.

Am Anfang von "Die Liebe in Zeiten der Cholera" heißt es: "Der Geruch von bitteren Mandeln ließ ihn stets an das Schicksal verhinderter Liebe denken." Gegen Ende von "Der Herbst des Patriarchen", nachdem der Diktator die Karibik an die Amerikaner verkauft hat, nehmen die amerikanischen Marine-Ingenieure "die Karibik in nummerierten Teilstücken mit, um sie weit weg von den Orkanen in Arizonas blutigen Morgenröten auszusäen, sie nahmen sie mit all ihrem Inhalt mit, mit dem Widerschein unserer Städte, unseren furchtsamen Ertrunkenen, unseren wahnsinnigen Drachen." Die erste Eisenbahn kommt in Macondo an, eine Frau wird verrückt vor Angst: ",Da kommt was Unheimliches', stieß sie mühsam hervor, ,so etwas wie eine Küche, die ein Dorf hinterdreinschleppt."

Und natürlich: "Der Herr Oberst Aureliano Buendía zettelte zweiunddreißig bewaffnete Aufstände an und verlor sie allesamt. Er hatte von siebzehn verschiedenen Frauen siebzehn Söhne, die einer nach dem anderen in einer einzigen Nacht ausgerottet wurden, bevor der älteste das fünfunddreißigste Lebensjahr erreichte. Er entkam vierzehn Attentaten, dreiundsiebzig Hinterhalten und einem Erschießungskommando. Er überlebte eine Ladung Strychnin in seinem Kaffee, die genügt hätte, ein Pferd zu töten." Unsere einzig mögliche Reaktion auf diese Großartigkeit ist Dank. Er war der Größte von uns allen.

Trauerfeier für Nobelpreisträger
:Kolumbien erweist Gabriel García Márquez letze Ehre

Trauer in Kolumbien: Auch im Heimatland des Literaturnobelpreisträgers haben die Menschen Abschied von Gabriel García Márquez genommen. Hunderte versammelten sich, um ihm in strömendem Regen die letzte Ehre zu erweisen.

Deutsch von Anna Mayrhauser

© SZ vom 29.04.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: