Sängerin Miley Cyrus:Verhaltensauffällige Diva

Miley Cyrus Visits 'Late Night With Jimmy Fallon'

Miley Cyrus bei "Late Night With Jimmy Fallon"

(Foto: AFP)

Miley Cyrus provoziert Amerika mit halbstarker Erotik. Das tut sie nicht nur, um mit ihrer Rolle als Kinderstar zu brechen, so einfach funktioniert Pop nicht mehr. Und dann ist da noch die Musik.

Von Joachim Hentschel

Früher tauchten die Nacktbilder berühmter Frauen immer erst Jahre später auf. Zeugnisse anonymer, reueloser, unbeobachteter Zeiten, in Dachkammern geknipst, auf leeren Landsitzen gefilmt, künstlerisch meist wertlos, biografisch umso aussagekräftiger. Die Fotografen konnten sie teuer verkaufen, sobald ihre Zufallsbekanntschaften berühmt genug waren: Madonna, Debbie Harry, natürlich Marilyn Monroe, die 1952 im Time Magazine so wunderbar erklärte, sie habe während der Aktsitzung doch das Radio angehabt. Der alte Spruch, sie waren jung, brauchten das Geld.

Miley Cyrus ist jung, weil sie noch keine Zeit hatte, um alt zu werden. Sie braucht das Geld nicht: Mit 20 Jahren hat sie praktisch schon eine komplette Superstarkarriere hinter sich, als Sängerin, Schauspielerin, Internetsuchbegriff, vor allem aber als braves Vorbild für präpubertäre Mädchen. Was derzeit mit ihr passiert, seit einigen turbulenten, von Blitzbildern umstürmten, endlos diskutierten Wochen, das interpretieren die meisten Betrachter vor allem so, dass Miley Cyrus nach dieser ersten Karriere nun ganz schnell noch eine zweite machen will. Eine völlig andere, um jeden Preis.

Die Dialektik könnte nicht schöner sein: Jahrelang hatte die Tochter des christlichen Countrysängers Billy Ray Cyrus als Verkörperung aller protestantisch-systemerhaltenden Ideale des Walt-Disney-Konzerns gegolten. Ende August trat sie dann bei den Video Music Awards des Senders MTV in fleischfarbener Unterwäsche auf, angriffslustig und obszön choreografiert. Drehte mit dem Fotografen Terry Richardson ein Musikvideo, in dem sie in einer Sequenz nichts als ein Paar Stiefel trägt, in einer anderen an einem Vorschlaghammer leckt. Erschien nackt und mit verschränkten Armen auf dem Cover der Zeitschrift Rolling Stone, ein ganz großartiges Bild übrigens, bevor im Blog des besagten, für diese Art von Provokation weltbekannten Richardson noch weitere Fotos auftauchten, auf denen es dann langsam in heikle anatomische Details ging. Wobei "aufgetaucht", das Paradigma der Monroe-Zeit, natürlich das falsche Wort ist.

Miley Cyrus hatte mit ihrer seltsamen, durchaus verhaltensauffälligen Enthüllungsaktion vom Start weg die maximale Öffentlichkeit gesucht, der nichts entgehen kann, deren Tempo und Aufmerksamkeit man nur noch in Tweets pro Minute misst. 306.000 sollen es während der MTV-Show gewesen sein, das ist sehr viel. Und darum kreist letztendlich all das Entsetzen und die Sorge, die bestens eingeübte Empörung von Publikum und Kritikern: um die Frage, ob diese junge Frau wirklich weiß, was sie tut, wenn sie sich derart ungeschützt in eine Öffentlichkeit stellt. Und ob sie damit irgendwie zur Erosion der Moralvorstellungen beiträgt.

Antwort bei "Saturday Night Live"

Vergangene Woche hat Miley Cyrus die Frage möglicherweise beantwortet. In der letzten Ausgabe der NBC-Fernsehsendung "Saturday Night Live" wurde ein Sketch aufgeführt, in dem der Schauspieler Kenan Thompson im apokalyptischen Jahr 2045 als Opa am Lagerfeuer sitzt und sich an den Zusammenbruch der amerikanischen Zivilisation erinnert. Nein, sagt er, der Regierungs-Shutdown sei nicht schuld gewesen, auch nicht Obamacare. Sondern die Vorkommnisse bei den MTV-Awards. Rückblende nach 2013, und, ja, da steht sie, Miley Cyrus, noch hinter der Bühne, schon im Kostüm und bereit zur Tat.

Seit den Siebzigerjahren ist Saturday Night Live legendär für seine Prominentenparodien. Joe Piscopo hatte eine Glanzrolle als Frank Sinatra, Tina Fey als Sarah Palin. Es waren aber auch immer die Prominenten selbst, die sich über sich lustig machten, oft, um einen Skandal zu entschärfen - Tom Cruise, Demi Moore, Hillary Clinton. Vergangenes Wochenende parodierte sich auch Cyrus in den Sketchen, durfte sich natürlich auch ein wenig vor dem Millionenpublikum rechtfertigen. War später in der Show noch als Hillary Clinton und Tea-Party-Republikanerin Michele Bachmann zu sehen, leckte an einer Abraham-Lincoln-Puppe, in einer Regierungskrisen-Persiflage auf ihre eigenen Videos.

Womöglich ein überfordernder Präzedenzfall

Wenige Tage später wurde sie von Talkmaster Jimmy Kimmel empfangen, noch ein glänzender, voll bekleideter Auftritt. Fast wie ein Wahlkampf. Die Umfragewerte steigen derzeit wieder. "Bangerz", ihr nicht zufällig eben erschienenes Musikalbum, wird in den amerikanischen Charts mit größter Wahrscheinlichkeit bald auf Platz eins stehen. Als ob das der einzige Grund für die Softporno-Aktion gewesen wäre. Als ob die amerikanischen Charts noch irgendwen interessieren würden.

Wenn diese letzten Auftritte an etwas erinnert haben, dann vor allem daran, was Cyrus eigentlich sonst so macht: Sie ist Schauspielerin. Sechs Jahre lang hatte sie, damals noch mit langen, eichhornbraunen Haaren, in der spektakulär erfolgreichen Teenagerserie "Hannah Montana" ein Mädchen namens Miley gespielt, das eine Doppelidentität führt. Tagsüber in der Schule, nachts, auf rätselhafte Weise unerkannt, als angehimmelter Popstar. Dass die Schauspielerin Cyrus dann wiederum selbst auf Tour ging, dort dieselben Lieder sang wie ihr Alter Ego Hannah im Fernsehen, das machte die harmlose Disney-Serie zu einem geisteswissenschaftlichen Glücksfall, mit dem man nicht nur die halbe postmoderne Zeichentheorie erklären kann, sondern, wenn man so will, nun auch die unerhörte Story von der neuen, bösen, nackten Miley.

Im Blitzlicht glänzende Hinterbacken

Der Rolling-Stone-Interviewer ließ sich von ihr in den Block diktieren, sie wolle ja keineswegs provozieren, sondern nach den anstrengenden Jahren der Disneyfikation nun einfach ihr wahres Selbst ausleben. Man muss nicht mal auf dem dekonstruktiven Trip sein und schon gar nicht blind für die Machtfragen, die sich natürlich stellen, sobald eine junge Frau ihren Körper so öffentlich zeigt - aber die Cyrus-Geschichte ist definitiv komplexer, als es zwei im Blitzlicht glänzende Hinterbacken vermuten lassen. Vor allem: Es ist eine Geschichte.

Worauf auch die Musik hindeutet, die den ganzen Aufwand ja irgendwie rechtfertigen soll. "Bangerz", das notorische Album, ist alles andere als die typische, nach Red Bull schmeckende Teenageranimation, die auch Cyrus mit ihrem alten Ich oft genug betrieben hat. Selbstverständlich wurde das alles in erster Linie für MP3-Kopfhörer und die Berieselung abgefahrener Hotelbars konzipiert - dennoch ist die stilistische Bandbreite erstaunlich, tun sich in den Soulsongs überraschende Tiefen auf, hat hier besonders der omnipräsente Dressman und Produzent Pharrell Williams Songs wie das Cajun-inspirierte "4x4" oder den gepfiffenen Funk "#Getitright" platziert, denen eine weniger souveräne Interpretin und Mimin rettungslos ausgeliefert wäre. Das hört sich weniger wie eine stumpfe Feier von Jugendlichkeit an, eher wie ein mehrgängiges Katerfrühstück, das sich die mit 20 schon alternde Diva Cyrus angerichtet hat, unter viel zu großer Sonnenbrille, mit einer Gesangsstimme, der man die genervt hochgezogene Oberlippe durchaus anhört. Und eine Traurigkeit, die durchaus in Spannung steht zu ihren Auftritten.

Das Urteil zwischen echt und falsch, verrückt oder ausgekocht sollte man hier nicht zu schnell fällen. Und sich lieber fragen, warum auch die gnädigeren Kritiker dieser jungen Frau nicht zutrauen, dass die Brüche in ihrer Performance beabsichtigt sein könnten. Dass wir hier womöglich einen etwas überfordernden Präzedenzfall erleben, wie in der Welt des Pop, die sich ja weiter im rasanten Umbruch befindet, heute eine solche Umpositionierung abläuft. Wie man sich einen neuen Claim absteckt, auch einen erotischen, in dem man davor noch nichts zu suchen hatte. Wenn diese Miley Cyrus klug genug ist, sich selbst zu parodieren, dann war die Parodie hier vielleicht von Anfang an angelegt, in der unmotivierten Nacktheit, der komischen Sexgymnastik. Im Hammerlecken, das kein Facebook-Zensor oder iTunes-Shop verpixeln konnte. Vielleicht ist das die Geschichte, die sie uns nun endlich ein bisschen erklärt hat, auf ihrer TV-Tour. Eine neue, Google-optimierte Version der alten Legende vom künstlerischen Erwachsenwerden.

Viele Jahre nach den alten Nacktbildern hatte sich ja auch Madonna noch einmal ausgezogen, bedeutungsschwer und maximal angestrengt für ihren Bildband "Sex". Marilyn Monroe schwamm ganz zum Schluss noch einmal für die Filmkamera ohne Badeanzug im Pool, saß dem Fotografen Bert Stern für einige unvergessliche Aktbilder Modell, nach eigener Aussage, um Liz Taylor von den Zeitschriftencovern zu verjagen. Die Nacktheit der kleinen Miley Cyrus, der durch alle Kanäle geblasene Softpornoangriff mag im Vergleich dazu schrecklich bedeutungslos wirken. Weil er das Schauspiel ein Schauspiel sein lässt. Ohne Schmollmund, ohne Sinnlichkeit. Nur mit rausgestreckter Zunge. Und die Kids haben es längst kapiert.

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