Sänger Evgeny Nikitin:"Ich war ein abscheuliches Kind"

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Evgeny Nikitins Aufstieg zum Weltruhm ist wegen seiner tätowierten Brust gefährdet, der Auftritt in Bayreuth abgesagt. Was für ein Mensch ist dieser erstklassige Bariton, der bis vor kurzem in einer Rockband sang und Schlagzeug spielte?

Tim Neshitov

Der russische Bariton Evgeny Nikitin, 38, wird also wie geplant eine Rolle in der Wagner-Oper singen. Nicht an diesem Mittwoch in Bayreuth und nicht die Partie des Fliegenden Holländers, sondern er wird im Herbst an der Bayerischen Staatsoper als Friedrich von Telramund in "Lohengrin" auftreten. Das teilte am Dienstag die Bayerische Staatsoper mit. Den Umgang der Familie Wagner mit dem tätowierten Sänger kommentierte Intendant Nikolaus Bachler in einer Stellungnahme, die man emotional nennen könnte, wäre sie in der Sache nicht so konsequent: "Dass die Torheit eines 16-jährigen Rocksängers (...) ausgerechnet nun von der Wagner-Familie geahndet wird, finde ich verlogen. Man zeigt offenbar mit dem Finger auf jemanden anderen, weil man mit der eigenen Geschichte ein Problem hat."

"Ich habe nicht auf dem Konservatorium studiert, um später Deos zu verkaufen." Evgeny Nikitin als Schlagzeuger.  (Foto: Kanal Kultura/dpa)

Nikolaus Bachler teilt nicht nur dem Wagner-Publikum mit, dass sein Spielplan unverändert bleibt. Er legt nicht nur den eigenen großen Zeigefinger in eine sehr alte, sehr deutsche Wunde. Er trifft auch als erster eine Entscheidung, die nun viele Intendanten auf der Welt werden treffen müssen. Nikitin fallen lassen - oder weiterhin auf die Bühne holen? Denn Nikitin ist ein aufsteigender Weltstar, schlimmer noch: er ist ein aufsteigender Weltstar mit einer so genannten "dunklen Vergangenheit", die den Aufstieg von Stars meistens je mehr beschleunigt desto dunkler sie wirkt, vorausgesetzt sie bleibt im Dunkeln. Bei Nikitin glaubt die Bayreuther Festspielleitung dank Bild und ZDF das entscheidende, das absolut inakzeptable Stückchen Dunkelheit ans Licht gezerrt zu haben.

Ergebnis: Die Festspiele verlieren eine ihrer stärksten Stimmen, und Nikitin wird nun endgültig zu jemandem, der ein gutes Presseteam nicht weniger braucht als seine gute Stimme. Wenn er, ein seelisch sehr stark im russischen Norden verwurzelter Künstler, seine internationale Karriere denn weiter verfolgen will. Dass er am Mariinski in Petersburg weiterhin singen darf, bezweifelt niemand, der den Mariinski-Chef Valery Gergiev kennt. Gergiev hatte Nikitin 1998 den Weg zur ganz großen Bühne geebnet, und es darf vermutet werden, dass der Maestro die Tätowierungen Nikitins bereits damals kannte. Am Dienstag teilte die Pressestelle des Mariinski-Theaters mit, der Sänger sei wieder in Sankt Petersburg und berate sich mit seinem Medienteam über mögliche Interviews. Seine Internetseite war nicht aktualisiert, sie kündigte den Auftritt in Bayreuth noch an. Unabhängig von seiner betrieblichen Zukunft ist Nikitin bereits ein Mensch, dessen Reue in Bayreuth weniger bedeutet als seine Kunst.

Keine Wandlung vom Rock-Saulus zum Opern-Paulus

Nun sollte man sich aber vergegenwärtigen, was genau für eine "dunkle Vergangenheit" das Leben von Evgeny Nikitin birgt. Er hat also bis vor zwei Jahren in einer Rock-Band gespielt. Es wäre interessant zu erfahren, warum er damit aufgehört hat, denn die Oben-Ohne-Aufnahmen stammen nicht aus einer fernen, unappetitlichen Jugend, sondern von 2008. In dem Jahr debütierte Nikitin auf der bayerischen Staatsoper, als Jochanaan in Richard Strauss' "Salome". Bereits 2002 hatte er an der Metropolitan Opera gesungen.

Nikitin hat also die meiste Zeit seiner Karriere Oper und Rock gleichzeitig gemacht, es gab in seinem Leben keine Wandlung vom Rock-Saulus zum Opern-Paulus. Das wundert zuerst nicht, denn Wagners Werk scheint Menschen zu begeistern, die auch gewissen Rockrichtungen zugetan sind. Der Heldentenor Peter Hofmann sang genauso in einer Rockband wie der Schwede Lars Cleveman, Bayreuths Tannhäuser im vergangenen Jahr.

Journalisten des russischen Fernsehsenders "Kultura", von dem auch die ZDF-Enthüllungsaufnahmen stammen, fragten Evgeny Nikitin vor vier Jahren, warum er Rockmusik spiele. "Weil sie unser heutiges Leben widerspiegelt", sagte er. "In der klassischen Musik ist alles bereits gesagt worden." Und falle es ihm schwer, zwischen seinem Studio und der Opernbühne hin- und herzuschalten? "Wenn ich mein Studio betrete, lasse ich alles hinter der Tür. Mein Zuhause und dass ich staubsaugen muss und dass ich morgen um elf Uhr zur Probe erscheinen muss. Für drei, vier Stunden lebe ich in meinem Kosmos, und niemand fasst mich an und nichts fasst mich an."

Zu Nikitins Kosmos gehörten in der Jugend auch Tätowierungen. In keinem der Interviews, in denen er bisher danach gefragt wurde, verriet er, warum er sich mit 16 Jahren auf die rechte Brust ein Hakenkreuz und auf die linke eine Elhaz-Rune tätowieren lies - kurz bevor er auf das Petersburger Konservatorium ging. Egal, ob er als Jugendliche aus Absicht oder aus Naivität handelte, es hätte ihm mit Ende 30 klar sein müssen, dass solche Tätowierungen in Bayreuth zu Verwerfungen führen würden. Was er damals den "Kultura"-Journalisten erzählte, als er noch nicht im Verdacht stand, den Bayreuther Geist zu verraten, lässt seinen Werdegang besser verstehen.

"Ich war nie ein schwieriges Kind, aber ein lästiges, ein rothaariges, abscheuliches Kind. Ich hatte immer Kommunikationsprobleme. Ich war ein Ding an sich." Nikitin wuchs in Murmansk auf, einer Hafenstadt nördlich des Polarkreises, in der die Sonne für ein halbes Jahr verschwindet, jedes Jahr. "Ich neige zu Depressionen, ich schwanke. Im Winter bin ich sehr gereizt und böse, und im Sommer blüht bei mir drinnen alles ein bisschen auf. Insgesamt bin ich eine ziemlich finstere Gestalt." Er schaut sich im Interview auf die Fingernägel und fügt hinzu: "Aber Einsamkeit ist ja bekanntermaßen das Schicksal aller großen Menschen." Dann macht er ein Bühnengesicht und sagt etwas müde: "Das war ein Witz."

Seine Rocksongs hat Nikitin selber geschrieben und komponiert. Eins heißt "Schwert": "Verzeih mir, mein Leben. Ich verbrenne die Brücken hinter mir und gehe für immer hinter den Horizont meines Traums." In einem anderen Lied singt Nikitin: "Das ewige Meer streichelt uns wie die Mutter ihre Söhne in der Wiege streichelt. Das Rauschen der Brandung singt in der Stille das Abschiedslied der lieben Ufer."

Seine Musik klingt dunkel und etwas komplizierter als sie ist. Man könnte sagen, sie wirkt wagnerianisch, wie auch seine ausweichende Haltung zur eigenen Vergangenheit, aber man kann seine Musik auch einfach hören, ohne irgendwas darüber zu sagen. Nikitin singt, sehr tief: "Graue Wellen, grimmiger Himmel, Nordwind, unendlicher Regen, dunkler Abgrund brodelnder Ströme - all das ist das Element der Furchtlosen, deren Leib und Blut. Mit jedem Ruderschlag naht das unbekannte Land. Was uns dort begegnet, gehört alles uns."

Im Gespräch mit den russischen Journalisten sagte Nikitin, das Opernsingen mache ihm erst seit etwa 2005 richtig Spaß, seitdem er das Repertoire beherrsche. "Die Bühne ist zu meinem Element geworden, zu meinem zweiten Leben, vielleicht gar zum ersten." Er sagte noch, er habe nicht auf dem Konservatorium studiert, um später Deos zu verkaufen. Nun muss Evgeny Nikitin sich in seinem neuen Element behaupten und sich für sein altes rechtfertigen.

© SZ vom 24.07.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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