Sachbuch:Nichts als Launen und Leidenschaften

Julia Friedrichs warnt in ihrem Buch "Wir Erben. Was Geld mit Menschen macht" vor der Herrschaft der reichen Nachfahren. Sie will das Bildungssystem durch höhere Erbschaftssteuern finanzieren. Geht das?

Von Stephan Speicher

Julia Friedrichs kann recht ungeniert sein. Während sie an ihrem Buch über Erben und Erbschaften arbeitete, besuchte sie auf einer Urlaubsreise auch das Naturkundemuseum in San Francisco. Dort werden in vier Glaskästen tote Ratten in den Stadien fortschreitender Verwesung gezeigt. Aaskäfer krabbeln auf den Kadavern herum und zehren sie auf, legen Larven darin ab und lassen es sich gut gehen. Das erinnert Julia Friedrich an ihr Buchthema: "Und so, denke ich, sieht es wohl aus, wenn die Toten die Lebenden nähren. Und starre weiter." Nun muss man der Autorin nicht gleich mit einer Eintragung ins Wörterbuch des Unmenschen drohen. Dass Tiervergleiche heikel sind, weiß sie selbst. Aber bemerkenswert ist es doch, mit welcher Hemmungslosigkeit sie urteilt.

Dabei ist ihr Thema wirklich interessant. Zum ersten Mal seit hundert Jahren werden in Deutschland Vermögen in größerem Umfang vererbt. Das verändert die Gesellschaft, das stellt Fragen nach der Verteilungsgerechtigkeit. Und es ist Julia Friedrichs gutzuschreiben, dass sie dabei nicht allein an die ganz großen Vermögen denkt. Sie spricht auch über die mittleren Fälle. Kinder erben bis 400 000 Euro steuerfrei. Das ist nicht gerade der Regelfall in deutschen Familien. Die Hälfte der Bevölkerung erbt nichts. Aber exotisch sind solche Summen auch nicht bei den geringen Kinderzahlen. Das Nettoeinkommen deutscher Haushalte betrug 2012 rund 36 000 Euro im Durchschnitt. Dass man das Elffache dessen als Erbe auf einen Hieb steuerfrei vereinnahmen kann, das ist natürlich ein Problem. Aber wie löst man es?

Die Erbschaft erscheint dem Begünstigten wie ein zusätzliches Einkommen. Aber anders als Gehalt oder Gewinn entspringt die Erbschaft nicht der Steigerung der gesamtwirtschaftlichen Leistung, ist nicht Teil des Bruttoinlandsprodukts, von dem der Staat durch Lohn- und Einkommensteuer seinen Teil einzieht. Mit dem Erbfall gehen Vermögenswerte in neue Hände über. Das macht auch eine scharfe Besteuerung schwierig: Hier geht es an die Substanz. Vielleicht wäre eine schärfere Erbschaftsteuer dennoch richtig. Aber den volkswirtschaftlichen Aspekt mag Julia Friedrichs nicht ernsthaft erörtern.

Überhaupt sind Erörterungen einfach nicht ihr Fall. Erbschaften findet sie ungerecht. Sie zitiert, zustimmend offenbar, Mirabeau, der 1791 vor der französischen Nationalversammlung die Testierfreiheit beklagt: "Trägt die Gesellschaft nicht schon genug an den Launen und Leidenschaften der Lebenden? (. . . ) Haben wir nicht eine Unzahl von Testamenten gesehen, die entweder von Hochmut oder von Rache, von unrechter Ablehnung oder blinder Vorliebe zeugen?" Schon eine Seite später erregt sich Friedrichs über die Einschränkung solcher Launen und Leidenschaften, über die Pflichtteilsansprüche, die nach deutschem Recht Kindern und Ehegatten zustehen und ein Ausfluss antiquierter Familienideologie seien.

Sachbuch: Julia Friedrichs: Wir Erben. Was Geld mit Menschen macht. Berlin Verlag, Berlin 2015. 320 Seiten, 19,99 Euro. E-Book 15,99 Euro.

Julia Friedrichs: Wir Erben. Was Geld mit Menschen macht. Berlin Verlag, Berlin 2015. 320 Seiten, 19,99 Euro. E-Book 15,99 Euro.

Julia Friedrichs will immer nur dabei sein, dort, wo was erzählt wird, also besucht sie Erben

Ansprüche auf Konsistenz hat die Autorin nicht. Sie will immer nur dabei sein, dort, wo was erzählt wird. Und also besucht sie Erben. Lars zum Beispiel ist Komponist. Sein tüchtiger Vater hat ihm eine üppige Schenkung gemacht, nun wohnen Lars und Familie in einer luxuriösen Altbauwohnung in Berlin. Noch besser: Seinem Traum, als selbständiger Komponist zu arbeiten, kann er nachgehen, er hat ja familiäre Sicherheiten. Ist das nicht ungerecht? Das sieht Lars auch so. Er berichtet vom Neid der alten Freunde, und dass sich etwas zwischen sie geschoben hat.

Erben schafft Neid und Unbehagen, ist Julia Friedrichs' Befund. Aber sie hat keine Zahlen, bloß Eindrücke. Das wiederum ist ihr nur halb vorzuwerfen. Sie stellt fest, dass es gutes statistisches Material über die Armut in Deutschland gibt, nicht aber über den Reichtum. Denn die Reichen sind diskret, sie lieben es nicht, wenn über sie gesprochen wird, halten ihre Belange im Dunklen. So ist man in vielem auf Spekulation angewiesen. Aber einiges könnte man sich schon gründlicher überlegen. Gerade unter liberalen Theoretikern ist umstritten, wie das Erben und Vererben zu beurteilen ist. Die einen sehen darin das selbstverständliche Verfügungsrecht des Eigentümers, also soll sich der Staat um der Freiheit willen da heraushalten. Die anderen richten den Blick auf die Privilegierung einzelner, die dem Konkurrenzideal des Liberalismus widerspricht. Aber dieser Streit wird von Julia Friedrichs nicht entfaltet.

Stattdessen erzählt sie von Erben, die sich schwer tun mit ihrer Aufgabe. Sie besucht die Familie Grupp ("Trigema") und Roger Flüh, der sich mit rasend schnellen Motoryachten die Zeit vertreibt, erzählt von Oetker und Rockefeller, von Erbschleichern und Familienstreit. Dass sie dabei mit den Reichen oder doch Wohlhabenden umgeht, dass sie ständig auf frisch abgezogenen Dielenböden steht, das liegt in der Natur der Sache. Aber man wird den Verdacht nicht los, dass ihr das auch sehr gefällt. Denn ihr Buch wirkt wie ein verschrifteter Fernsehbeitrag, und zwar einer, bei dem sich die Autorin selbst ständig in Szene setzt. "Stopp, denke ich, Pause." Über Hanno Buddenbrook: "Eine Szene, die ich kaum zu lesen ertrage." Und immer wieder lesen wir, dass sie sich gerade was notiert hat, handschriftlich.

Ihr Antrieb ist die Angst vor der drohenden Herrschaft der reichen Nachfahren, ansprüchlich, dabei ohne Antriebskraft. Unsere Zivilisation könnte durch das Erbschaftswesen an Kraft und Zukunftsfreude verlieren. Sie verweist auf die französischen Romane des 19. Jahrhunderts - aber da liest man gleichzeitig von ungeheurer Dynamik, nicht unbedingt empfehlend übrigens. Die deutsche Wirtschaft ist stark von mittelständischen Unternehmen ín Familienbesitz geprägt. Sind diese Unternehmen weniger innovativ als andere? Dass Firmenbesitz weitgehend erbschaftsteuerfrei von einer Generation auf die nächste übergeht, das müsste nicht sein. Eine maßvolle Besteuerung wäre möglich und aus Gerechtigkeitsgründen geboten, das hat vor kurzem noch Wolfgang Schön, Direktor des Max-Planck-Instituts für Steuerrecht, dargelegt.

Julia Friedrichs: "Wir Erben"

Eine Leseprobe des Buches stellt der Verlag hier zur Verfügung.

Darüber spricht Julia Friedrichs wiederum wenig. Man versteht ihren instinktiven Widerwillen gegen das Erben, aber was sind die Alternativen? Was geschähe, wenn man große Erbschaften scharf besteuerte und auch für Familienunternehmen keine Ausnahme machte? Die Idee hat ihren Reiz, es ist der Traum vom Neuanfang für jede Generation. Aber praktisch hieße das, dass Unternehmen aus Familienhand in die großen Kapitalsammelstellen übergehen, Fonds, Versicherungen und ähnliches. Will man das? Der Politologe Franz Walter hat von seinen Lesereisen einen ihn überraschenden Eindruck zu berichten. Spreche er mit den Leuten, höre er eine tiefe Skepsis gegen die bestehende Wirtschaftsordnung, zugleich aber oft auch Respekt vor den mittelständischen Unternehmen der eigenen Region. Man darf wohl unterstellen, dass die mehrheitlich familiengeführt sind.

In einer komplexen Gesellschaft lässt sich nicht alles auf Null stellen, nicht ohne Verluste zumindest. Dass Erbschaften Verstöße gegen Gleichheit und Gerechtigkeit sind, das wird man dennoch zugestehen. Und es ist ja allerdings höchst merkwürdig, dass die Familie für die Zukunftschancen der Kinder wieder wichtiger geworden ist, obwohl sie als soziale Ordnung stark beschädigt ist. Vermutlich ist das eine tüchtig sprudelnde Quelle persönlichen Unglücks.

Der Glaube jedoch, in der frühen Bundesrepublik sei es besser gewesen, ist nicht weniger merkwürdig. Meritokratie, Herrschaft nach Verdienst ist eine schöne Vorstellung, "Freie Bahn dem Tüchtigen!" war eine Forderung der Sozialdemokratie gegen die Privilegien des Adels. Aber dass die Nachkriegsjahre eine Zeit gewesen sein sollen ohne "die Schmach, die Unwert schweigendem Verdienst erweist", wie Hamlet klagt, das hätte man uns früher sagen sollen.

Verlorene Kriege sind große Gleichmacher, Zeiten des Friedens versteifen eine Gesellschaft

Und wo man von der nivellierten Mittelstandsgesellschaft reden durfte, da beruhte sie auf sehr zweifelhaften Grundlagen. Materiell waren das die Zerstörung der Städte und des Immobilienbesitzes, Inflation, Flucht und Vertreibung. Und ideologisch war die Gleichheit der Nachkriegsjahre ein Nachklang von Schützengrabensozialismus des Ersten Weltkriegs und Volksgemeinschaftsideologie des Nationalsozialismus. Verlorene Kriege sind große Gleichmacher, in den durcheinander gewirbelten Verhältnissen wird auch oft über die Klassenschranken hinweg geheiratet. Lange Zeiten des Friedens dagegen versteifen eine Gesellschaft.

Julia Friedrichs wünscht sich dagegen eine Gesellschaft, in der jedes Kind seine Chance bekommt. Wer wünschte das nicht? Der Schlüssel ist das Bildungswesen, das würde sie gern durch höhere Erbschaftsteuern finanzieren. Aber dass der Hunger der Deutschen nach Bildung, ihr Wunsch, eine gebildete Gesellschaft zu werden, bis heute an der schwachen Ergiebigkeit der Erbschaftsteuer scheitert, das ist doch ein sehr optimistischer Blick auf uns selbst.

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