Sachbuch:Das Schöne ist nur des Schrecklichen Anfang

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Gunter Gebauer: Das Leben in 90 Minuten. Eine Philosophie des Fußballs. Pantheon Verlag, München 2016. 318 Seiten, 14,99 Euro. (Foto: Pantheon Verlag)

Gunter Gebauer spürt in seinem Buch "Das Leben in 90 Minuten" der Metaphysik des Fußballs nach.

Von Helmut Böttiger

Der Sport ist längst zum erweiterten Feuilleton geworden. Vor allem der Fußball hat sich von der bloßen Berichterstattung emanzipiert, er greift aus in Popdiskurse und Magazinstrecken, in Systemtheorie, Pressing und Umschaltspiel. In diesen Hallraum hinein stellt der Philosophieprofessor Gunter Gebauer jetzt die entscheidenden Fragen. Ihn interessiert vor allem: Was hat den Fußball dazu befähigt, sich eine eigene Mythologie zu erschaffen?

Der Autor dekretiert im Anschluss an Karl Marx: Der Fußball stellt den Menschen vom Kopf auf die Füße. Dass beim Fußball der Ball mit den Füßen gespielt wird, gibt Anlass zu kulturgeschichtlichen Erwägungen. Die freibewegliche Hand war die erste Errungenschaft, die den Menschen vom Affen unterschied, und im Lauf der Evolution stimulierten die Hände das motorische Sprachzentrum im Gehirn. Die Hand beim Spiel also nicht zu beteiligen, bedeutet einen radikalen Kulturverzicht.

Durch das "Tiki-Taka" wird das Spiel zum "Ingroup-Gemurmel"

Auf der anderen Seite aber wird der Mensch durch den Fußball fragil. Durch das Handverbot unterwirft er sich wieder stärker der Herrschaft der Sinne, und auch der Zufall spielt plötzlich eine größere Rolle. Die gewöhnliche Alltagspraxis verliert ihr Selbstverständnis, und hier kann sogar Martin Heidegger eingreifen: die Dinge sind nicht mehr "zuhanden".

Da der Fußball nur mit den Füßen berührt werden darf, sind nach Gebauer primär "die unteren Regionen der Psyche" angesprochen. Dadurch werden Unmittelbarkeit und reine Präsenz kultiviert. Das Körperliche, das Schicksalhafte, die Schutzlosigkeit der menschlichen Existenz: das alles wird im Fußball ausgedrückt. Deshalb lehnt der Autor auch allzu rechenhafte Taktikexempel ab, etwa die versuchte Ausschaltung des Zufalls durch das spanische "Tiki-Taka". Das Spiel werde dabei zum "Gemurmel einer Ingroup", und auf lange Sicht könne dies das Interesse am Fußball mehr stören als der vermeintlich schädliche Zufall. Da im deutschen Fußballdiskurs seit Jahren die Faszination an Computersimulationen im Vordergrund steht, wirkt diese ästhetische Einschätzung durchaus befreiend. Manch deutscher Intellektuelle glaubt ja, Gefallen an endlosen Videoaufzeichnungen finden zu können und am Moment, in dem dann der unvermeidliche Fehler im System erfolgt. Dabei geht es um etwas ganz Anderes.

Gebauer schließt sich lieber Sartres "Philosophie der Emotionen" an. Gerade in einer Schlussoffensive in den letzten Minuten zeige sich abseits aller Planbarkeit, wer mental und emotional überlegen sei. Das 4:4 Deutschlands gegen Schweden, nach einer 4:0- Führung und drückender Überlegenheit, ist nicht rational zu erklären. Das irrationale Moment des Fußballs ist seine wirkliche Kraft.

Ähnlich wie die Kunst zeigt der Fußball eine andere Version der Welt. Und in seiner Ästhetik der Grausamkeit rührt er an die tiefsten Schichten. Der amerikanische Ästhetik-Professor Stanley Cavell bezeichnet Fußball als eine Welt "in terms of Shakespeare": Die Sieger retten sich nämlich nur vor der Katastrophe, sie entrinnen einem bösen Schicksal. Im alltäglichen Leben bleibt dieser dunkle Untergrund meist verborgen, beim Fußball wird er unmittelbar erfahren. In den Fußballstadien, so Gebauer, fühle auch ein Zuschauer, der noch nie etwas von Rilke gehört habe, dass sich das Schöne im Schrecklichen fortsetze: "Schönheit im Fußball kann nicht als eine relativ bedeutungslose Variante des Schönen aufgefasst werden, die im Verhältnis zur Kunst keine echte ästhetische Dimension hat. Sie gehört vielmehr zu einer älteren Form der Schönheit als die bürgerliche Kunst: Der Fußball ist eine Welt, in der sich die Akteure extremen Selbst-Prüfungen und Verletzungen aussetzen."

Der Autor zieht etliche namhafte Gewährsleute heran, um Fußball als die Metaphysik unserer Gegenwart definieren zu können, bis hin zu Max Webers Definition "charismatischer Herrschaft". Und hier kommt auch eine religiöse Dimension ins Spiel. Jeder Glaube hat eine performative Seite, Innerlichkeit drückt sich in Ritualen aus. Und Rituale haben im Fußball eine gewaltige Bedeutung, von Glückspullovern bis hin zu ausdifferenzierten Fan-Choreografien im Stadion.

Mit Foucault nennt Gebauer das Stadion eine "Heterotopie", einen Anders-Ort. Einmal lässt Gebauer Michel Foucault sogar einen entscheidenden Pass in die Schnittstelle spielen: was der französische Kultphilosoph "Disziplinen" nannte, nämlich das Ergebnis von komplexen Prozessen praktischen Übens, verwertet Joachim Löw direkt: "Högschte Disziplin!"

Im historischen Rückblick stellt der Autor fest, dass der Fußball erst im Laufe der siebziger Jahre begann, die nationale Erinnerung zu strukturieren. Entgegen der landläufigen Meinung erklärt er, dass der WM-Titel 1954 für die Mehrheit der Deutschen noch gar nicht so wichtig gewesen sei. Noch in den sechziger Jahren sei Körperliches in der Gesellschaft und im Fernsehen wenig zur Geltung gekommen, dies sei dem Kino vorbehalten gewesen. Durch technische Verbesserungen machte sich dann allmählich eine spezielle Überlegenheit des Fernsehens gegenüber dem Kino geltend: das Serielle, die mehrteiligen Folgen. Ein Quantensprung erfolgte, als der Fußball zunächst bei RTL und dann bei Sat 1 eine Schlüsselfunktion im kommerziellen Fernsehen einnahm.

Gegen die bröckelnde Hochkultur wurde Fußball zum Pop-Ereignis

Anfang der neunziger Jahre begann sich dadurch die Finanzstruktur des Fußballs vollkommen umzugestalten. Gebauer analysiert im Rückblick sehr klarsichtig, dass das "die Entwicklung der Spielkultur" behinderte: Es war möglich, auch mit mittelmäßigen Fußball sehr viel Geld zu verdienen. In Deutschland verpasste man den Anschluss. Das Wort von den deutschen "Rumpelfußballern" entstand, und die Rede von "deutschen Tugenden" wie Kraft, Ausdauer und Disziplin versuchte zu übertünchen, dass die Holländer, Franzosen und Italiener mittlerweile einen weitaus moderneren Fußball spielten.

Es ist erstaunlich, dass noch lange nach dem erkennbaren Niedergang des deutschen Fußballs in den Medien auf seine Erfolge gepocht wurde. Noch zu Beginn der desaströsen Weltmeisterschaft 1994 schrieb die FAZ, der deutsche Fußball sei nie so gut gewesen wie heute. Es war wohl auch die steigende kommerzielle und mediale Bedeutung des Fußballs, die dazu führte, kritische Stimmen als "Kulturpessimismus" zu denunzieren. Zudem wurde der Fußball gegen eine bröckelnde Hochkultur als Pop-Phänomen in Szene gesetzt und als solches affirmativ behandelt. Erst, als die deutsche Mannschaft bei der Vorrunde der Europameisterschaft 2000 gegen eine B-Elf Portugals unterlag und ausschied, schien Handlungsbedarf zu herrschen. Jürgen Klinsmann riss in der Vorbereitung auf die WM 2006 weitgehende Vollmachten an sich und leitete den Erneuerungsprozess ein.

Gebauer versäumt nicht, auf die Gefahren der Kommerzialisierung hinzuweisen, auf die undurchsichtigen Machtstrukturen der Fifa, das Risiko, dass alles kippen könnte. Aber im Moment befinden sich die Deutschen wieder auf dem Höhepunkt einer Fußball-Euphorie. Da hilft es, wenn man sich philosophisch vergewissert und auf alle Eventualiäten vorbereitet ist: "Offensichtlich ist der Fußball so organisiert, dass er die Unsicherheit der Existenz zeigen und den Menschen in offene Situationen stellen soll."

© SZ vom 08.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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