Russische Literatur:Warten auf die Schwalben

Michail Ossorgins Roman "Eine Straße in Moskau" aus dem Jahr 1929 erzählt vom Einbruch des Ersten Weltkriegs und der Revolution in den Haushalt eines bürgerlichen Gelehrten.

Von Thomas Urban

Es gab kein Pulver, mit dem man auf die Wölfe hätte schießen können, es wurde ja nunmehr überwiegend auf Menschen geschossen", stellt der Erzähler lakonisch fest. In Russland haben sich die Bolschewiki im Oktober 1917 an die Macht geputscht, das Land versinkt im Bürgerkrieg. Moskau hungert. Also ziehen immer mehr Menschen aufs Land, um bei den Bauern ihr Hab und Gut gegen Lebensmittel einzutauschen. Doch auch dort herrscht blanke Not, die Dörfler können sich nicht einmal mehr gegen die Wölfe wehren, die nachts um ihre Häuser streichen.

"Der Wolf kreist", hieß die erste deutsche Ausgabe des Romans des russischen Emigranten Michail Ossorgin über den Ersten Weltkrieg und die Revolutionswirren, der 1929 ein Erfolg war. Nun erscheint das Buch in einer prägnanten, präzisen Neuübersetzung und erstmals in voller Länge, eine fulminante Studie über orientierungslose Menschen in einer zusammenbrechenden Welt voller Gewalt. Im Original heißt das Buch "Siwzew wrashek". Es ist der Name einer Straße im vielbesungenen Moskauer Arbat-Viertel, er erinnert an eine längst zugeschüttete kleine Schlucht, durch die einst der Bach Siwza floss.

Die Straße, in der dieser Roman spielt, kommt auch bei Tolstoi und Pasternak vor

Einige Szenen aus Lew Tolstois "Krieg und Frieden" und Boris Pasternaks "Doktor Schiwago" spielen in der Straße, sie war stets eine begehrte Adresse. Ein Eckhaus ist der Schauplatz der meisten der 86 Szenen in dem Roman Ossorgins, der die Jahre 1914 bis 1920 umfasst. Zunächst geht in der großzügigen Wohnung des Ornithologie-Professors Iwan Alexandrowitsch alles seinen üblichen Gang: Der Professor beobachtet Schwalben, seine Frau dirigiert mit milder Nachsicht die Dienstboten, die bei ihnen lebende verwaiste Enkelin Tatjana, genannt Tanuschka, 16 Jahre alt, bereitet sich auf die Abschlussprüfungen auf der Höheren Mädchenschule vor und träumt von einer Karriere als Pianistin.

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Hätte der "Bolschewik" auf diesem Bild von Boris Mikhailovich Koustodiev von 1920 anders ausgesehen, wenn Trotzki ihn geführt hätte?

(Foto: Alinari/bridgemanart.com)

Mit dem Ausbruch des Krieges bricht diese kleine Welt zusammen. Die meisten der Studenten des Professors und Verehrer der hübschen Tatjana sind zwar zunächst stolz auf ihre prächtigen neuen Uniformen. Doch die Kriegsbegeisterung verfliegt schnell, die ersten Toten im Freundeskreis sind zu beklagen. Einem vormals schmucken Oberleutnant und elegantem Tänzer reißt eine deutsche Granate alle Gliedmaßen weg, er überlebt als "Stumpf", wie es der Erzähler gleichmütig nennt, umsorgt von seinem treuen Offiziersburschen, aber nach und nach verlassen von allen Freunden. Die jungen Frauen, die sich als Krankenschwestern melden, erschrecken über die "zertrümmerten Menschenleiber". Doch noch werden Heldenbegräbnisse inszeniert: "Solche Friedhöfe gab es viele, große und kleine, sie waren der ganze Stolz der Länder, Herrscher und Völker." Nur ein Bauernbursche spricht die Wahrheit aus: "Wie Müll werden wir in den Eimer geworfen."

Der Halbanalphabet vom Dorf macht dann Karriere unter den Bolschewiki. Der mittlerweile verwitwete Professor und seine Enkelin verarmen und müssen ihre Wohnung mit einem Dutzend fremder Menschen teilen. Die Außerordentliche Kommission, auf Russisch "Tscheka" abgekürzt, nimmt willkürlich Verhaftungen und Erschießungen vor, ein Klima der Angst, das auch schon Pasternak in seinem in der Sowjetunion verbotenen "Doktor Schiwago" eindringlich vermittelt hat.

Während die Masse blanke Not leidet, bekommen die Henker des Regimes Sonderrationen an Lebensmitteln. Der Tscheka-Exekutor, der im Haus neben dem Professor wohnt, kann seinem blutigen Handwerk aber nur nachgehen, wenn er sich betrinkt. Und er ist zu feige, ein Schwein zu schlachten, das seine Frau herangeschafft hat. Doch einen ihm persönlich bekannten Nachbarn, einen Dozenten für Philosophie, der sich als Clown in Arbeiterklubs durchschlägt, erschießt er in den Kellern der Geheimdienstzentrale Lubjanka. Die Erschossenen werden als "Abgänge" verbucht, Zwangsverpflichtete müssen sie auf Äckern um Moskau verscharren. Das Ende des Romans lässt den weiteren Lauf der Dinge offen, der Professor und Tanuschka erwarten die Rückkehr der Schwalben.

Russische Literatur: Michail Ossorgin: Eine Straße in Moskau. Roman. Aus dem Russischen mit Anmerkungen und einem Nachwort von Ursula Keller unter Mitarbeit von Natalja Sharandak. Die Andere Bibliothek, Berlin 2015. 572 Seiten, 39,50 Euro.

Michail Ossorgin: Eine Straße in Moskau. Roman. Aus dem Russischen mit Anmerkungen und einem Nachwort von Ursula Keller unter Mitarbeit von Natalja Sharandak. Die Andere Bibliothek, Berlin 2015. 572 Seiten, 39,50 Euro.

Der Journalist Ossorgin hatte Glück - er wurde abgeschoben und ging nach Paris ins Exil

Die große Politik wird nur an wenigen Stellen angetippt, der Verfasser wollte offenkundig kein umfassendes Panorama der Zeit schaffen, wie dies Tolstoi und auch Pasternak getan haben. Zu diesen Stellen gehört die Frage eines Tscheka-Folterknechts nach Kontakten eines Verdächtigen zu Boris Sawinkow. Dieser war ein Terrorist in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, mit Bombenattentaten wollte er dazu beitragen, die Zarenherrschaft zu beseitigen. Sein autobiografisch geprägter Roman "Das fahle Pferd" ist kürzlich erstmals auf Deutsch erschienen. Im wirklichen Leben dürfte Michail Ossorgin den Terroristen und Schriftsteller Sawinkow gekannt haben, denn beide waren in der Sozialrevolutionären Partei aktiv, die der Bolschewikenführer Lenin als politische Konkurrenz blutig verfolgen ließ.

Ossorgin, von Beruf Journalist, hatte mehr Glück, er wurde ins Exil abgeschoben. In Paris schrieb er für sozialdemokratische und liberale Emigrantenblätter. Wenige Jahre nach dem Erfolg seines Erstlings brachte er noch den Roman "Der Freimaurer" heraus, in dem er ebenfalls eigene Erfahrungen verarbeitete, doch fand er kein positives Echo. Auf der Flucht vor den deutschen Besatzern starb er 1942 in einem Dorf südlich von Paris. Mit der Schilderung von Verstümmelungen und Verbrennungen der russischen Gesellschaft in seinem Revolutionsroman liefert er auch Antworten auf die Frage, wo es begann, dass diese so wurde, wie sie heute ist.

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