Russische Literatur:Träum schneller, Genosse!

Vielen in Russland gilt die Prosa Andrej Platonows als unübersetzbar. Gabriele Leupold beweist, dass es doch geht. Mit ihrer Neuübersetzung des Romans "Die Baugrube" ist sie für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.

Von Tim Neshitov

Anfang 1927 hatte der Schriftsteller Andrej Platonow ein unvergessliches Erlebnis, eine Art Albtraum in wachem Zustand. Er versuchte, als Agraringenieur ein paar Rubel im südrussischen Tambow zu verdienen, und schrieb von dort an seine Frau in Moskau: "Ich bin in der Nacht aufgewacht (mein Bett ist ungemütlich hart) - die Nacht leuchtete schwach unter dem späten Mond - und ich sah am Tisch neben dem Ofen, dort, wo ich immer sitze, mich selbst. Das ist nicht schrecklich, Mascha, das ist viel schlimmer. Ich lag im Bett und sah, wie am Tisch wiederum ich saß und schrieb, mit einem Halblächeln. Und dieses Ich, das da schrieb, hob kein einziges Mal den Kopf, und ich sah bei ihm meine Tränen nicht."

Das Ehepaar Platonow war nur sporadisch glücklich. Das gilt auch für die beiden platonowschen Ichs: Der Mann am Tisch und der Mann im Bett, der klassenkämpfende Ingenieur und der gottsuchende Schriftsteller, der Gnadenlose und der Zärtliche, sie lagen sich am Ende gründlich in den Haaren. Wer nie Platonow gelesen hat, hat viel, sehr viel verpasst.

In Russland heißt es natürlich, Platonow sei der russischste Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts, unübersetzbar wegen seines intimen Verhältnisses zur russischen Sprache. Einerseits, wie wahr! Platonow im Original klingt, als würde jemand arg stottern, wobei das Gestotterte zufällig auch die bittere Wahrheit über die Welt ist, schlimmer noch, über einen selbst. In Platonows wichtigstem Text, dem Roman "Die Baugrube" von 1930, ist die Sprache schlichtweg der Hauptheld, sie entwickelt ein Eigenleben, was fast schon biblisch anmutet: Als sei am Anfang tatsächlich das Wort gewesen, und dieses Wort hieß aber: Baugrube.

Es lohnt sich, Platonow zu übersetzen; vieles geht unweigerlich verloren, nur entsteht bei einer guten Übersetzung trotzdem immer ein Sound, und die Handlung ist ja auch noch da, diese schlimme, großartige, tarantinohafte Handlung der "Baugrube". Die erfahrene Übersetzerin Gabriele Leupold hat das Buch für Suhrkamp neu übersetzt. Ein gelungener Versuch.

"Woschtschews Körper war bleich geworden vor Müdigkeit, er spürte die Kälte auf den Lidern"

Soviet propaganda poster celebratiing elecrtric power propductioion in the Soviet Union 1929 by G

"Millionen Komsomolzen - Millionen Kilowatt", Werbung für den Kommunismus als Sowjetmacht plus Elektrifizierung um 1930.

(Foto: imago)

Wie klingt Platonow auf Deutsch? Ein wichtiger Held heißt Woschtschew, man möge sich mit diesem Namen abfinden, man denke daran, dass "schtsch" auf Russisch nur ein einziger Buchstabe ist und dass dieser Name im Original nach Wachs klingt und nicht nach Borschtsch. "Woschtschew stieg über Erdbrocken hinab in die Schlucht und legte sich dort auf den Bauch, um einzuschlafen und von sich abzustehen. Aber für den Schlaf brauchte es die Ruhe des Verstandes, seine Zutraulichkeit zum Leben und das Verzeihen durchlebten Kummers, und Woschtschew lag in trockener Anspannung des Bewusstseins und wusste nicht - ist er nützlich auf der Welt oder kommt alles glücklich ohne ihn aus?"

Wie gesagt, die Sprache, sie lebt, auch in dieser Übersetzung. "Woschtschews Körper war bleich geworden vor Müdigkeit, er spürte die Kälte auf den Lidern und schloss mit ihnen die warmen Augen." Es hätte heißen können: "Er fror und machte die Augen zu", aber ein solcher Satz hätte Platonows fein austarierten Text für mehrere Seiten aus dem Gleichgewicht gekippt.

Es soll ein epochaler kommunistischer Bau entstehen, davon handelt dieser Roman, die Arbeiter kommen allerdings über die Baugrube nicht hinaus. Sie faseln im kommunistischen Neusprech, sinnieren über das Leben, essen wenig, sterben viel und morden viel. Das Buch macht klar, dass Kommunismus nicht funktionieren kann. Der Beweis wird nicht mit den Mitteln einer in ferner Zukunft liegenden Dystopie erbracht, sondern mit dem Mittel der Beschreibung des Hier und Jetzt. Zu Platonows Lebzeiten war der Roman unpublizierbar, in der späten Sowjetunion erschien er 1987 mit starken Zensureingriffen. In den Neunzigern war er sogar Pflichtlektüre an russischen Schulen, damals wurde Platonow als Vorläufer der Dissidenten entdeckt und gefeiert, als eine Art früher Solschenizyn. Welche Ironie!

Platonow und der Kommunismus, der Mann im Bett und der Mann am Tisch: Im Sommer 1931 schreibt Platonow an seine Frau (er ist wieder unterwegs): "Wenn du wüsstest, wie schwer es die Menschen hier haben, aber die einzige Rettung ist der Kommunismus, und unser Weg - der Weg des Bauens, der Weg des Tempos - ist der richtige." Ein Mann, der im Kommunismus die vollkommene Gesellschaftsordnung sieht, schreibt ein vollkommen antikommunistisches Buch, von dem es heute üblich ist, Gänsehaut zu bekommen. Die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff berichtet im Nachwort, ihr hätten beim Lesen die Hände gezittert.

Andrei Platonov, 1938

Andrej Platonow, Ingenieur und Autor, geboren 1899 bei Woronesch, gestorben 1951 in Moskau, in einer Aufnahme aus dem Jahr 1938.

(Foto: Maria Andreevna Platonova)

Wie kam denn dieses Buch zustande? Geht man noch eine Weile zurück, zum Anfang der 1920er-Jahre, bleiben keine Zweifel, mit welch perverser Leidenschaft dieser gut aussehende junge Mann an die rote Ideologie glaubte. In einem Zeitungsartikel fordert Platonow, da ist er 23 Jahre alt, "die volle, allgemeine Vernichtung der lebendigen Basis des Kapitalismus, der Bourgeoisie als Summe lebendiger Individuen": "Wir haben von der Natur noch nicht gelernt, gnadenlos zu sein."

Der junge Platonow wollte die Welt aus den Angeln heben, die Kapitalisten gnadenlos vernichten

Platonow, 1899 geborener Sohn eines Lokführers und einer Hausfrau aus dem südrussischen Woronesch, ältestes von elf Kindern, will die alte Welt aus den Angeln heben. Er schreibt viel für Zeitungen, auch Gedichte, aber seine wahre Berufung sieht er darin, für die sowjetische Heimat Brunnen, Straßen und Brücken zu bauen. Darin ist Platonow auch außergewöhnlich gut: In den drei Jahren 1923 bis 1926 legt seine Mannschaft 763 Teiche an, baut 315 Brunnen, legt 12 455 Hektar Land trocken und so weiter. Er ist einer der Besten in diesem Beruf, bis er von Neidern abgesägt wird. Bei der Kommunistischen Partei bettelt Platonow dann vergebens um Mitgliedschaft, er darbt mit Frau und Kleinkind. Was Literatur angeht, regt er die Gründung einer "Literaturfabrik" an. Sogenannte Litreporter sollen wie Bienen ausschwärmen und Erlebnisse einfangen, "Honig und Gift des Lebens", die dann von Redakteuren zu Prosa verrührt würden.

Es ist schwer zu sagen, wie ernst gemeint dieser Vorschlag war. Kurz danach hatte Platonow den Albtraum mit dem schreibenden Doppelgänger, und ab da begann auch seine produktivste und einsamste Zeit als Schriftsteller (das meiste landete erst mal in der Schublade). "Die Baugrube" ist der Höhepunkt. Ein Meisterwerk.

Vieles aus der beklemmend poetischen "Baugrube" - Hunger, Erschöpfung, Fliegen auf Leichen - hatte Platonow mit eigenen Augen gesehen. Es ist anzunehmen, dass auch das Hauptmotiv, die existenzielle Verzweiflung am Kommunismus und daraus folgend am Menschen, aus seinen Erfahrungen resultiert. In einem Brief an Stalin schrieb Platonow, vermutlich wissend, dass "Die Baugrube" nie erscheinen wird: "Ich habe verstanden, was für schreckliche, dunkle Kräfte sich der Welt des Sozialismus entgegenstellen und was für ungeheure Arbeit jeder Mensch verrichten muss, der seine Hoffnungen in den Sozialismus setzt."

1938 wurde Platonows fünfzehnjähriger Sohn verhaftet. Im Lager infizierte er sich mit Tuberkulose, nach seiner Rückkehr steckte er den Vater an. Beide starben an den Folgen, der Sohn im Jahr 1943, der Vater im Januar 1951 in Moskau.

Andrej Platonow: Die Baugrube. Roman. Aus dem Russischen von Gabriele Leupold. Suhrkamp Verlag Berlin 2016. 240 S., 24 Euro. E-Book 20,99 Euro.

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