Roman:Wie ein Grollen im Eis

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Antje Rávic Strubel versetzt in ihrem neuen Roman "In den Wäldern des menschlichen Herzens" Frauenpaare in grandiose Naturkulissen. Hemingway meets Schnitzler? Eben nicht.

Von Frauke Meyer-Gosau

Was ist das menschliche Herz? Unser wichtigster Muskel? Der Sitz der tiefsten Gefühle? Der Titel des neuen Romans von Antje Rávic Strubel schlägt eine dritte Sichtweise vor: "In den Wäldern des menschlichen Herzens" suggeriert ein nicht leicht zu durchdringendes inneres Gelände, in dem Licht und Schatten jäh wechseln und dessen Bewohner sich unerwartet von vertrauten Wesen in bedrohliche Erscheinungen verwandeln können - ein Territorium, das den Sinn für Abenteuer ebenso herausfordert wie naturwissenschaftliche Neugier.

Wie eine Versuchsanordnung mutet diese literarische Expedition an. In dreizehn Geschichten finden Katja und René, Emily und Leigh, Faye und Helen, Sara und Ute in einem Zeitraum von mehr als zehn Jahren zu immer anderen Verbindungen zusammen. Am Ende dann erscheint ein neues Paar, eine "sie" ohne Namen und ein Mann, Katt. Setzt man die Indizien richtig zusammen, ist auch er bereits bekannt - in der ersten Geschichte hieß er Katja und hat sich inzwischen einer technisch kühl als "Generalüberholung" bezeichneten Geschlechtsumwandlung unterzogen.

"Alle Gewissheiten, die man sich mühsam erarbeitet hat, werden außer Kraft gesetzt. Und darum geht's. Um nichts anderes" - dies, programmatisch formuliert von der angehenden Schriftstellerin René, scheint auch Antje Rávic Strubels Plan für ihren Roman gewesen zu sein: eine Brechung der männlich geprägten Abenteuer-Vorstellungen à la Hemingway, der gleich im ersten Absatz der ersten Geschichte beim Namen genannt wird - "Hemingway" heißt das Camp, von dem aus Frauengruppen sich zu Paddeltouren über schwedische Seen aufmachen. Kommentar der Erzählerin: "Teilnehmer der geführten Kanutouren hatten sich über das veraltete Männlichkeitsbild beschwert, das darin zum Ausdruck kam. Aber die Campleitung hielt an diesem Namen fest." Genau so soll es in diesem Buch nicht zugehen.

Antje Rávic Strubel (Foto: Christian Thiel/imago)

Auch nicht wie bei Arthur Schnitzler, dessen wechselnde Paare in der Szenenfolge "Reigen" Anfang der Zwanzigerjahre Theaterskandale auslösten. Blieb der Koitus hier noch vom Bühnengeschehen ausgespart, ist bei Strubel alles "vom Sex überströmt", wie die Frau in der letzten Geschichte resümiert: "Sex in Hotels, auf Felsen, in Bars, nüchtern, drastisch, verliebt." Nur dass Katt - auch er Schriftsteller - allen Eros in seiner Literatur verbraucht zu haben scheint; zu einer Umarmung zwischen ihm und seinem weiblichen Gegenüber kommt es nicht.

"Wenn ich ein boy wäre. Dann wäre einiges anders", sagt Helen zu Faye

Alles infrage stellen, alle Erwartungen negieren: Selbstredend kann nach diesem Programm zu allererst die wilde Natur nicht mehr sein, was sie noch zu Hemingways Zeiten war. Tätowierte Männer auf schweren Motorrädern brettern durch den kalifornischen Nationalpark, Leigh durchpflügt auf einem Quad die hitzeflimmernde Wüste, ein aufgegebenes AKW liegt am Rande des Stechlin-Sees, die Silhouette eines stillgelegten Kalkwerks ragt am Horizont der schwedischen Insel Gotland auf. Und die Menschen - Touristen und Freizeitsportler, keine Abenteurer - bewegen sich, bestens reise- und krankenversichert, in modischer Funktionskleidung durch die geschützten Wildnis-Reste.

"Ihr mögt keine Natur", stellt ein dem Volk der Sámi entstammender Bootsführer verächtlich fest, während er René und ihren Reisegefährten Norman auf einer Flussfahrt in Lappland mutwillig in Lebensgefahr bringt. "Ihr ertragt die Übergänge nicht", setzt er hinzu und gibt damit das Stichwort auch für die Menschen-Beziehungen, von denen der Roman erzählt. "Schlimme Heterophobie" attestiert sich da René, die in ihrem beruflichen Übergang von der Journalistin zur erfolgreichen Schriftstellerin gezeigt wird, und Helen sagt zu Faye: "Wenn ich ein boy wäre. Dann wäre einiges anders."

So erscheint es nur konsequent, dass die Natur, von Strubel in Zuständen von Licht und Finsternis, Hitze und Kälte grandios heraufbeschworen, für die Liebenden zunehmend zur Kulisse wird. In den Fokus rücken die inneren Erstarrungen und festgelegten Bilder, mit denen hier jede Einzelne zu kämpfen hat. "Ihr nehmt mir mein Menschsein weg", klagt Leigh, dessen Leben ein Übergang in Permanenz ist: Als "Gynander", Mann in einem Frauenkörper, hat er weibliche Brüste, seinen Bart muss er sich ankleben; zwischen den widerstreitenden Wünschen nach Härte und Weichheit, Kontrolle und Hingabe findet er sich nicht zurecht. Die Orthopädin Ute andererseits, seit zwölf Jahren mit Corinna verheiratet, wird von Männern in einer Sauna fast vergewaltigt; eines Nachts in einem finnischen Nationalpark setzt sie sich an das Bett eines schönen, friedlich schlafenden Sportlers, berührt seine Brust mit ihren Brüsten - es ist das beginnende Ende ihrer "Heilkrise", ein Übergang.

"Das Grollen im Eis hat eine unwirkliche Schönheit." Dieser Satz von René, im berückenden Jetzt schon dessen Zerbrechen ahnend, trifft auf diesen Episodenroman insgesamt zu. Das Schöne ist hier ohne das Bedrohliche nicht zu haben, in der Natur so wenig wie in der Liebe, und über allem liegt ein Hauch von Unwirklichkeit. Das mag am Vorsatz liegen, Frauenbeziehungen in einer gleichsam experimentellen Abfolge durchzuspielen und darin die gewohnte Geschlechterordnung zu konterkarieren: Sehr viel ist vorab gedacht worden und in gedankliche Konstruktionsarbeit eingegangen. Deren Ergebnis freilich erstaunt. Wie eigentlich unterscheidet sich die Liebe zwischen Frauen, wie der Roman sie zeigt, von derjenigen zwischen Frauen und Männern? Wenn Helen, die mit Sara und Faye ein Dreier-Verhältnis arrangiert, zufrieden folgert, dies gebe ihr das Gefühl, "mit sich im Einklang zu sein" - welcher Mann hätte das zu seiner Rechtfertigung nicht ebenso gesagt?

Antje Rávic Strubel: In den Wäldern des menschlichen Herzens. Episodenroman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016. 268 Seiten, 19,99 Euro. E-Book 18,99 Euro.

© SZ vom 25.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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