Roman von Haruki Murakami: 1Q84:Ein Gummibaum ist die ideale Verwandtschaft

Japanische Literatur ist die rätselhafteste der Welt - doch Haruki Murakami spricht universelle Gefühle an: von keuschen Killermaschinen und mörderischen Märchengeschwistern.

Von Burkhard Müller

Der große Augenblick des mehr als tausend Seiten dicken Buchs steht bevor: Aomame, die Heldin, schickt sich an, ihren gefährlichen Auftrag auszuführen, der ihr Leben, wenn nicht beenden, so doch auf immer verändern wird. Kommt sie ungeschoren davon, wird sie eine neue Identität annehmen müssen. Tamaru, Bodyguard und dienstbarer Geist von Madame, ihrer Auftraggeberin, führt ein letztes Gespräch mit ihr. Gibt es irgendetwas, das er hinterher für sie tun kann? Er möge sich, bittet sie, um ihren Gummibaum kümmern.

MIDEAST-ISRAEL-JAPAN-LITERATURE-MURAKAMI

Der japanische Schriftsteller Haruki Murakami galt dieses Jahr als einer der Kandidaten für den Nobelpreis.

(Foto: AFP)

"Übrigens, hast du eine Familie, die im Falle einer Lawine zu benachrichtigen ist?'

"Nein."

"Du hattest nie eine oder du hast eine und doch keine?"

"Letzteres."

"Gut', sagte Tamaru. 'Frei zu sein ist das Beste. Ein Gummibaum ist die ideale Verwandtschaft."

Es war immer sehr schweigsam zugegangen zwischen den beiden. Aber der Gummibaum löst ihnen im Augenblick des Abschieds die Zunge. Aomame beginnt davon zu sprechen, dass sie sich eigentlich einen Goldfisch hatte zulegen wollen; aber dann, als sie im Laden die Goldfische in ihrem Glas sah, wollte sie plötzlich keinen mehr. Und so kaufte sie lieber den Gummibaum.

"Ich finde, du hast die richtige Wahl getroffen."

"Vielleicht werde ich niemals einen Goldfisch kaufen können."

"Vielleicht", sagte Tamaru. "Du kannst doch wieder einen Gummibaum nehmen."

Der Dialog hat etwas Anrührendes und Todtrauriges. Beide, Aomame und Tamaru, sind durchtrainierte Kämpfer und Killer. Ihre Körper haben sie zu maschinenhafter, ja mystischer Effizienz geführt, bis zu dem Punkt, wo die tödliche Gewalt, die sie blitzhaft austeilen, sich als solche kaum noch wahrnehmen lässt. Wem Aomame ihre Nadel ins Genick setzt, bei dem tritt nicht mehr Blut aus als bei einem Mückenstich, und augenblicklich bleibt ihm das Herz stehen.

Doch beide haben sie die versehrten, unentwickelten Seelen von Waisenkindern. Als solche spenden sie einander Trost, so gut sie es vermögen. Sehr gut ist das nicht; aber etwas Besseres haben sie nicht gelernt. Tamaru ist das herumgestoßene Kind von Koreanern (die in Japan traditionell verachtet werden), Aomame hatte Eltern, die sich zu den Zeugen Jehovahs bekannten und sie zu einem Leben in Demut, Isolation und kratzigen Kleidern zwangen. Bei der Schulspeisung stand sie, obwohl sie vor Scham in den Boden versinken wollte, jedes Mal auf, um laut ihr kleines Gebet zu sprechen, ihren Mitschülern unbegreiflich.

Der Einzige, der ihr gegen ihre hämischen Mitschüler beisprang, war ihr Klassenkamerad Tengo gewesen. Beide waren damals zehn Jahre alt. Sie hatten einander danach fest die Hände gedrückt; zu mehr kam es nie, nicht einmal zu einem Gespräch, wenn sie einander auf ihren schmachvollen Wegen begegneten.

Denn wie Aomame ihre Mutter bei deren stets fruchtlosen Missionierungsversuchen begleiten musste, so Tengo, der mutterlos aufwuchs, seinen harten Vater, wenn er für den staatlichen Rundfunk, ebenfalls von Haustür zu Haustür ziehend, die Gebühren eintrieb. Dann verloren sie sich aus den Augen, ruhen aber in der Gewissheit, dass der je andere (das andere Kind, wie man sagen muss, denn all das ist zwanzig Jahre her) die große schicksalhafte Liebe war.

Märchengeschwister, kindlich und keusch

Auch Tengo hat, wie Aomame, einen geheimen Auftraggeber: den Lektor Komatsu, der ihm das Manuskript einer unbekannten jungen Autorin in die Hand drückt, damit er es umschreibt; denn die Story sei einzigartig, nur der Stil äußerst unbeholfen. "Die Puppe aus Luft" heißt das Buch, das eines erst werden will. Als Tengo die siebzehnjährige Fukaeri trifft, erweist sie sich als eine liebliche Schönheit, aber auch als Legasthenikerin mit autistischen Zügen.

Sie vertraut ihm vollkommen. Offenbar hat sie in ihrem Buch (das sie einer Freundin diktierte) ihre eigenen Erfahrungen als Kind in einer unheimlichen Landkommune verarbeitet, die im Lauf der Zeit von einer revolutionären Zelle in eine religiöse Sekte hinüberwuchs. Fukaeris Buch, von Tengo neu gefasst, wird der Überraschungsbestseller der Saison; aber Fukaeri taucht unter und bleibt lang verschwunden.

Die Erzählstränge von Aomame und Tengo erhalten abwechselnde Kapitel zugewiesen (Aomame, die mit ungerader, Tengo die mit gerader Zahl), und beginnen sich spät zu verflechten. Das mindert die Aufmerksamkeit nicht, denn Murakami weiß, wie man, auch wenn die Dinge nur langsam voranschreiten, den Leser bei der Stange hält. Er bewirkt dies nicht in erster Linie durch seinen Plot, aus dem mehr als ein unvernähter Faden heraushängt, und auch nicht eigentlich durch seine Sprache.

Ein Buch ohne ein Gramm Fett zu viel

Mit Murakamis Sprache hat es eine eigene Bewandtnis; sie gleicht dem Charakter seiner Protagonisten, die alle überdurchschnittlich intelligent und doch von der üblichen menschlichen Kommunikation bis zu einem gewissen Grad abgeschnitten sind. Sie senden und empfangen nicht auf der gesamten Skala menschlichen Ausdrucks, sondern nur in einer bestimmten Frequenz. Rhetorische Tricks oder auch nur die normale affektive Färbung, die Sprache im Mund der meisten Menschen annimmt, sind ihnen fremd. Ohne Hintersinn und also verletzbar bietet sich ihre Rede dar.

Der Leser mag sich natürlich fragen, wie viel davon der ihm fremden Kultur angehört. Aber dass solche Sprache funktioniert, dass sie nicht im Licht des Mangels, sondern der Schlichtheit und Frische erscheint, das ist allein Murakamis Verdienst. Merkwürdigerweise erregt dieses doch recht dickleibige Buch den Anschein, es sei sehr knapp geschrieben, ohne ein Gramm Fett zu viel. Auch ohne Japanisch zu können, darf man der Übersetzerin Ursula Gräfe attestieren, diese Anmutung getreulich ins Deutsche gebracht zu haben.

Erklärungsbedürftiger Titel

Das Fesselnde des Werks steckt in seinen Figuren. Murakami tritt ihnen mit einer so selbstverständlichen, geradezu mütterlichen Liebe entgegen, dass er darüber weiter kein Wort verlieren muss. In ihren Biographien hingegen ist ihnen grausam wenig Liebe zuteil geworden. Sie leiden nicht einmal daran, denn sie kennen es nicht anders: so tief ist ihre Einsamkeit. Aber wo sie aufeinander treffen, finden sie ohne besondere Absprache zur Solidarität.

Während sie, davon abgetrennt, ein in seiner Seichtheit eher trauriges Sexualleben führen, werden sie einander zu Märchengeschwistern, kindlich und keusch. Die beiden Sphären zum Ganzen einer Persönlichkeit zu schließen, bleibt ihnen versagt. Ihre Menschlichkeit, unter Härte verborgen, erweist sich als ebenso stark wie linkisch. Noch wenn Aomame zu ihren Nadelmorden loszieht, kann der Leser nicht anders als zu fragen: Du armes Kind, was hat man dir getan?

Erklärungsbedürftig ist der Titel: "1Q84". Es verbirgt sich darin eine Anspielung auf George Orwells Roman "1984" (das Q soll auf Japanisch so ähnlich klingen wie 9). Die Ereignisse spielen in diesem Jahr, ohne dass dafür eine besondere Notwendigkeit zu bestehen scheint - man würde, einige Umständlichkeiten in der Datenverarbeitung abgerechnet, nicht stutzen, wenn es einfach die heutige Gegenwart wäre. Auch die phantastischen Elemente, die hereinspielen (Aomame beginnt etwa zwei Monde zu sehen), wären zumeist entbehrlich gewesen. Hier liegen die zwei Schwachstellen des Buchs.

In einem entscheidenden Punkt aber macht Murakami vom Phantastischen doch legitimen Gebrauch. Es ist klar, dass Aomame und Tengo sich finden werden, sonst kann das Buch nicht zu seinem folgerichtigen Abschluss gelangen. Ebenso klar ist, dass eine Begegnung der beiden Erwachsenen nicht auf dem Stand der zehnjährigen Kinder verharren kann und es doch müsste. So greift der Autor denn zur "Puppe aus Luft", die dem Buch von Fukaeri seinen geheimnisvollen Titel gegeben hatte. Es ist eine Puppe wie die eines Schmetterlings. Wie das im Einzelnen geschieht, darf eine Rezension nicht preisgeben; doch sei gesagt, dass Murakami aus dem Unglaublichen die einzig glaubhafte Lösung hervorspinnt.

Murakami galt dieses Jahr als einer der Kandidaten für den Nobelpreis. Es ist schade, dass er ihn nicht bekommen hat. Nicht nur wäre jetzt genau der richtige Augenblick im Leben und im Werk des nunmehr 61-Jährigen gewesen. Sondern er hat etwas vermocht, was vor ihm offenbar noch kein japanischer Schriftsteller geschafft hat: Literatur zu schreiben, die sich aus ihrem Kokon befreit und nach außen öffnet.

Die Lebensläufe, von denen Murakami berichtet, sind wohl von einer spezifisch japanischen Kälte geprägt und beschädigt worden. Aber er spricht von ihnen so, dass jeder daran Anteil nehmen kann. Bei allen, auch bei den berühmtesten japanischen Autoren, behält man als westlicher Leser sonst immer den Eindruck zurück, etwas Wesentliches verpasst zu haben, als würden diese Bücher in Chiffren sprechen, die in Wahrheit etwas ganz anderes bedeuten als sich selbst. Japanische Literatur ist die rätselhafteste der Welt. Auch Murakami weiß seine Geheimnisse zu wahren. Aber es sind, kraft seiner tiefen Humanität, Geheimnisse für die ganze Welt.

HARUKI MURAKAMI: 1Q84. Roman. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. DuMont Verlag, Köln 2010. 1021 Seiten, 32 Euro.

Dieser Text erschien erstmals in der Süddeutschen Zeitung vom 19.10.2010.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: