"Überbitten":Irritiert von Stolpersteinen und Kinderspielplätzen

Stolperstein-Verlegung in München in der Ickstattstraße im Jahr 2017

Die Stolpersteine in Deutschland irritieren Deborah Feldman.

(Foto: Catherina Hess)

In "Unorthodox" schildert Deborah Feldman, wie sie der Sekte ihrer Kindheit entkam. In "Überbitten" versucht sie, ihre Vergangenheit zu überwinden.

Von Cornelius Wüllenkemper

"Überbitten", ein im Deutschen seit Langem ungebräuchlicher Ausdruck, bezeichnet in seiner jiddischen Form "iberbeten" die Verpflichtung zur Versöhnung, das Überreden des Gegenübers zur Barmherzigkeit, wenngleich man sich der eigenen Schuld bewusst ist.

In der jüdisch-chassidischen Gemeinde in New York-Brooklyn, in der die Autorin Deborah Feldman die ersten 17 Jahre ihres Lebens verbrachte, diente das "Iberbeten" als eine Art Sicherheitsfunktion für die Vergebung von Sünden, die man eventuell unbewusst begangen haben könnte. An Fest- und Fastentagen, so erzählt Feldman in ihrem dritten Roman "Überbitten", befragt man Freunde und Nachbarn, ob man sie eventuell vor den Kopf gestoßen habe und bittet auch dann, wenn diese verneinen, prophylaktisch um Entschuldigung - um Gott nicht gegen sich aufzubringen.

"Überbitten" ist ein Erlebnisbericht aus dem Maschinenraum der Seele

Diese nicht eben lebensleichte Annäherung an die Frage nach Schuld und Verantwortung überträgt Feldman, die mit ihrem Erstling "Unorthodox" über ihre Flucht aus der Zwängen der ultraorthodoxen Gemeinschaft in New York 2012 einen Besteller landete, nun auf das Verhältnis zwischen orthodoxem Judentum und dem europäischen Erinnerungsdiskurs an den Holocaust.

Das ist schon aufgrund der bis heute gerade in West- und Osteuropa höchst unterschiedlich geführten Debatten über historische Schuld und gegenwärtige Verantwortung ein gewagtes Vorhaben. Deborah Feldman wuchs in der Vorstellung auf, dass der Holocaust eine von Gott verhängte Strafe gegen unfromme Juden gewesen sei und das Deutschsein bis heute das personifizierte Böse in der Welt repräsentiere.

Sieben Jahre nach ihrer Flucht aus der chassidischen Gemeinde in Brooklyn, die ihren 120 000 Mitgliedern zwar eine gewisse Sicherheit, aber keinerlei Freiheiten zubilligt, reflektiert Feldman an der Seite ihres Berliner Lebensgefährten über die "unwahrscheinliche Eintracht" und darüber, dass sie sich zu allererst selbst dafür verzeihen muss, dem Glück so lange aus dem Weg gegangen zu sein.

"Überbitten" ist ein Entwicklungsroman par excellence, in dem die Autorin sich mithilfe ihres "eingewurzelten Glaubens an die Gesetze narrativer Entwicklung" für ein eigenständiges Leben rüstet. Nicht nur ihrem Publikum, sondern zugleich sich selbst erzählt sie die Geschichte ihrer eigenen Entfaltung vom Leben in strikter religiöser Unterwerfung bis zur Existenz als freie Autorin in Berlin-Neukölln. Ein Work in progress im engsten Sinne, an dem der Leser so unmittelbar Anteil hat, dass ihm nichts verborgen bleibt, vom Sex mit einem Nazi-Abkömmling bis hin zur schreibenden Verfertigung einer seelischen und identitären Orientierung.

Feldman betrachtet die Vergangenheit mit den staunenden Augen eines Kindes

Deborah Feldmans Text ist ein autobiografischer Erlebnisbericht aus dem Maschinenraum der Seele, ein Bericht über die befreiende Wirkung von Literatur und des eigenen Schreibens, über die Loslösung von der eigenen Herkunft und die Selbstverortung einer jungen jüdischen Frau.

Nicht selten wirken Feldmans von ihrem Verleger und Übersetzer Christian Ruzicska ins Deutsche übertragenen Sätze so, als seien sie im Schockzustand geschrieben, wie eine literarische Gegenreaktion auf die anerzogene Inhibition voller seelischer und körperlicher Berührungsängste. Nachdem Feldmann sich mit ihrem Bestseller "Unorthodox" aus der finanziellen Not und später auch aus der Ehe mit dem Vater ihres Sohnes befreit hat, wähnt sie sich am Ziel, und bemerkt kurz darauf, dass sie in Wahrheit vor dem Nichts steht.

Suche nach der eigenständigen Identität im Konflikt mit der Herkunft

Den medialen und monetären Erfolgen als junge Starautorin des Erstlings "Unorthodox" kann sie nichts abgewinnen und macht sich aufgrund der "alles konsumierenden Hässlichkeit dieses kapitalistischen Paradieses" von New York aus auf einen Roadtrip durch die Vereinigten Staaten. An dessen Ende steht die Erkenntnis, dass ihr eigene Identität begrenzt ist auf die einer orthodoxen Jüdin, die die Welt, in der sie lebt, weder kennt, noch als Ort der Geborgenheit erleben kann.

Nach einer ersten Reise nach Paris wird der Autorin Europa zum Hort von Stil, kreativer Sinnlichkeit und intellektueller Tiefe. Gerade in Ungarn, Österreich und in Deutschland aber stößt sie immer wieder auf den tiefen inneren Konflikt zwischen ihrer chassidischen Prägung und der Suche nach einer eigenständigen Identität als Jüdin und der unauslöschlichen Gegenwart der Geschichte.

Nicht immer sind die Reflexionen stringent ausformuliert

Die zehn Geschwister ihrer ungarischen Urgroßmutter wurden von kollaborierenden Truppen deportiert und schließlich in Auschwitz ermordet. Kein Zeichen des Andenkens daran findet sie im Heimatdorf ihrer Vorfahren. In Berlin irritieren sie die Stolpersteine zum Gedenken an die Opfer des Holocaust ebenso sehr wie ein Kinderspielplatz, der einst ein jüdischer Friedhof war: "Was für eine Wirklichkeit ist dies, dass Kinder auf genau den Wegen großgezogen werden, auf denen so viel Blut vergossen worden war?"

Feldman betrachtet die Vergangenheit und die Spuren, die sie im Bewusstsein der Menschen und in den Gedenkkulturen Europas hinterlassen hat, mit den staunenden Augen eines Kindes. Nicht immer sind diese Reflexionen stringent ausformuliert. Sie ähneln häufig eher kursorischen Tagebucheintragungen einer Reisenden, die einen Kontinent und damit auch ihre eigenen Wurzeln jeden Tag neu entdeckt.

"Überbitten": Deborah Feldman: Überbitten. Roman. Aus dem Englischen von Christian Ruzicska, Secession Verlag für Literatur, Zürich 2017, 704 Seiten, 28 Euro.

Deborah Feldman: Überbitten. Roman. Aus dem Englischen von Christian Ruzicska, Secession Verlag für Literatur, Zürich 2017, 704 Seiten, 28 Euro.

In Berlin, der Stadt, die am "endlosen Kampf um Geld und Statussymbole nicht teilzunehmen scheint", findet Feldmann zwischen unzähligen Buchläden, einer bunten Menge an "Grenzläufern", die sich hier nicht als Außenseiter fühlen müssen, und den kreativen Freiberuflern im Café auf der Neuköllner Sonnenallee schließlich ihr "geheimes Paradies".

Ihr Weg dahin ist eine seelische Abenteuerreise, an deren Ende der Begriff "Überbitten" eine neue Bedeutung gewinnt. Nach ihrer Einbürgerung in Deutschland erkennt Feldman die therapeutische Gelegenheit, Verletzlichkeit miteinander zu teilen.

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