Roman: Unsichtbar:Als Mephisto noch Martinis trank

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Gefangen im Spiegel: In "Unsichtbar" beschreibt Paul Auster die narzisstische Störung eines ganzen Landes - sein bislang bestes und tiefstes Buch.

C. Schmidt

Eines Morgens setzt es sich der siebenjährige Andy in den Kopf, allein eine Runde im See schwimmen zu gehen, während seine Mutter noch schläft. Auf dem Tisch hinterlässt er eine Nachricht für sie: "Liebe Mom ich bin im Seh". Dann springt er ins Wasser und ertrinkt. Sein Bruder Adam erzählt von diesem tragischen Unfall in Paul Austers neuem, seinem fünfzehnten Roman "Unsichtbar", der an diesem Freitag auf Deutsch erscheint. Und wenn er Andys Satz noch einmal wiederholt, wirkt es, als habe das jüngste Kind der Walkers seinen Tod vorausgesehen: "Ich bin im Seh."

Frühling 1967: Austers Protagonist Adam sieht sich zerissen zwischen einem Wohlstandsamerika, in dem Sex und Drogen verpönt sind, und den Vorboten anarchischer Kräfte, die bald ausbrechen werden.   (Foto: AP)

Obwohl der orthografische Fehler des Erstklässlers nur auf Deutsch einen philosophischen Nebensinn erhält - im englischen Original schreibt Andy "Ime in the lake" -, spielt der deutsche Übersetzer Werner Schmitz damit subtil auf das Hauptmotiv des Romans an. Wie immer thematisiert Auster, der Transzendentalphilosoph unter den Romanciers, auch in "Unsichtbar" die Bedingungen der Möglichkeit des Erzählens.

Mit doppeltem Boden

Im Gegensatz zu vielen seiner früheren Bücher sind die gebrochene Form, die wechselnden Perspektiven, die Leerstellen im Plot (sozusagen das uneinholbare Ansich) mehr als nur Jahrmarkttricks eines postmodernen Gauklers, der am Ende die Spiegel zusammenklappt, mit denen er den Leser genarrt hat. Im neuen Buch heben vielmehr all die bekannten Bluffs die Geschichte tatsächlich auf eine andere Ebene. Weil der doppelte Boden hier nichts rein Zirzensisches hat, sondern die disparaten Motive des Romans zu synthetisieren vermag, ist "Unsichtbar" Austers bislang bestes und tiefstes Buch.

Das titelgebende Wort "unsichtbar" selbst taucht im Roman an zwei markanten Stellen auf und markiert die beiden Pole von Austers Thema. In einem Brief an seinen einstigen Mitstudenten Jim spricht Adam über "die Verachteten und die Unsichtbaren", für die er sich als Armenanwalt 27 Jahre lang eingesetzt hat. Nach dem Romanistikstudium und dem gescheiterten Versuch, sich als freier Schriftsteller durchzuschlagen, hat er sich für Jura entschieden und kämpft für die Rechte der unterdrückten Minderheiten, jene, die objektiv "unsichtbar" sind.

Als Adam kurz vor seinem Tod versucht, ein Buch über seine Erlebnisse im Jahr 1967 zu schreiben, dem eigentlichen Wendepunkt seines Lebens, und irgendwann nicht weiter kommt, wird ihm klar: "Indem ich von mir selbst in der ersten Person schrieb, hatte ich mich lahmgelegt, mich unsichtbar gemacht, mir die Möglichkeit genommen, das zu finden, wonach ich suchte." Das ist die subjektive Unsichtbarkeit.

Adam Walker ist ein Narziss, der wie sein Vorbild im Mythos sein Spiegelbild zerstört, als er es zu umarmen versucht, während die Welt um ihn herum zum bloßen Echo verkommt wie die gleichnamige verschmähte Nymphe. Auster bindet die Fabel von Narcissus und Echo zurück an den Tod des kleinen Andy, der im Echo Lake ertrank. Erst durch seinen Tod "im Seh" war der zuvor unbeachtete Jüngste ja sichtbar geworden, denn das Trauma, das sein Unfall für die Familie bedeutet, verleiht ihm eine allgegenwärtige Präsenz. Und auch Adam muss einen symbolischen Tod als Dichter und seine Wiederauferstehung als Anwalt und Menschenrechtler erleben, um den Bann zu brechen. Erst durch seine Entscheidung für ein Leben der Selbstlosigkeit erringt er beides: ein Leben und ein Selbst.

Sündenfall und Erweckungserlebnis zugleich

Adam Walker ist Amerika, und sein Fluch der Fluch jener krisenhaften Jahre nach dem Tod Kennedys und vor dem Menetekel Vietnam. Schon sein Name spiegelt den Selbstbetrug einer ganzen Nation. Denn dieser Adam ist alles andere als ein Stammvater, unfruchtbar ist er als Dichter wie als biologischer Erzeuger. Und Walker ist nur die amerikanisierte Form des Namens polnischer Juden, die nach Amerika auswanderten.

Adams naiver Idealismus wirkt wie eine literarische Pose, als er im Frühling, der dem Summer of Love 1967 vorausgeht, eine doppelte Initiation erfährt, Sündenfall und Erweckungserlebnis zugleich. Er macht Bekanntschaft mit Eros und Thanatos in Gestalt eines Paares aus Europa. Der Tod, das ist der dandyhafte Zyniker und sinistre Menschenfeind Rudolf Born. Eros, das ist Borns sexbesessene Freundin Margot, mit der Born selbst Adam verkuppelt.

Born, dieser dekadente Mephisto im zerknitterten Leinenanzug, ist ein Verführer in zweifacher Hinsicht. Er bietet dem jungen Mann nicht nur seine Geliebte an, sondern auch 25000 Dollar, um eine literarische Zeitschrift zu gründen. Fast scheint es, als solle Adam, der unschuldige amerikanische Held, das Paar von sich selbst erlösen, als suchten beide, Born und Margot, nach Entsühnung. Dann jedoch sticht Born im Park einen jungen Farbigen nieder, und es kommt zum Bruch. Adam folgt Born nach Paris, um den Mord zu vergelten. Doch sein Racheplan ist allzu romantisch, um zu verfangen.

Zwischen Selbstzerstörung und Solidarisierung

Um ein paar Illusionen ärmer kehrt Adam in die USA zurück, doch was er über sich und seine Abgründe gelernt hat, verarbeitet er als individuelle Erfahrung, die er nicht ins Allgemeine hochrechnet. Dieser Widerspruch zwischen dem Privaten und Politischen ist das eigentlich Fesselnde an Austers Roman. Einerseits ist da noch das scheinbar intakte, fortschrittsgläubige Wohlstandsamerika, in dem Sex und Drogen verpönt sind, andererseits sind die europäischen Eindringlinge mit ihrem Hedonismus und ihrer Amoral nur Vorboten der anarchischen Kräfte, die bald auch hier ausbrechen.

Man lebt zwar noch in der alten Ordnung, doch alles deutet voraus auf die kommenden sozialen Umbrüche. Noch führen Krisen zur Selbstzerstörung, bald schon zur Solidarisierung. Darum ist es so triftig, dass Auster offen lässt, ob Born tatsächlich gemordet hat, ob Adam wirklich mit seiner Schwester schlief oder ob es sich dabei nur um eine Inzest-Phantasie handelte. Schließlich ist Gwyn, die ihm wie ein Zwilling gleicht, nur ein Spiegel-Ich, eine Chimäre im Grunde, eine Ausfaltung seiner selbst. "Unsichtbar" handelt von unausgelebten Latenzen, die noch nicht ins Politische umschlagen - diesen Gärzustand fängt Auster gerade dadurch ein, dass sein Roman auf der Handlungsebene unerlöst bleibt.

Kennzeichen der narzisstischen Störung, schrieb Richard Sennett in "Verfall und Ende des öffentlichen Lebens", sei die Unfähigkeit, sein Selbstbild zu objektivieren. Diese Störung als amerikanisches Syndrom an einem entscheidenden Datum der Zeitgeschichte aufzuzeigen, macht "Unsichtbar" zu einem großartigen Buch.

Schlank, flüssig und geradezu plot-driven, erfüllt es die Tugenden des American writing in subversiver Absicht. Tatsächlich handelt der Roman, der sich perfekt mit dem Kolorit der sechziger Jahre - Martini-Moderne und Pariser Juliette-Gréco-Bohème - geschminkt hat, von der Gegenwart. Wieder verkommt das Land, weil Amerika gebannt in den Spiegel starrt. Paul Auster hat das vorausgesehen, indem er zurückblickt.

PAUL AUSTER: Unsichtbar. Roman. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2010. 320 Seiten, 19, 95 Euro.

© SZ vom 16.07.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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