Roman: Unschuldige Tage im Krieg:Zerissene Zeiten

Sergio küsst Nina küsst Alastair, Nina küsst Stefano, der küsst Eleonora. Der italienische Schriftsteller Mario Fortunato erzählt in einer Art Kuss-Ringelreihen von Krieg und Liebe. Manches wirkt ein wenig forciert.

Maike Albath

Stefano küsst Eleonora, damit fängt alles an. Der britische Royal-Air-Force-Pilot Alastair küsst Stevie. Alastairs Jugendfreundin Edna hätte am liebsten Alastair geküsst, aber weil das nicht klappt, küsst sie viele andere Männer. Sergio küsst Nina und später Alastair. Und Nina küsst ihren Ehemann Stefano. Der italienische Schriftsteller Mario Fortunato fertigt eine Art Kuss-Ringelreihen an, um das herum er seinen Roman Unschuldige Tage im Krieg webt. Die ausgetüftelte Kombinatorik wirkt absichtsloser, als es das wiederkehrende Motiv zunächst vermuten lässt.

Buchtitel

Im Krieg und in der Liebe: "Unschuldige Tage im Krieg" vergegenwärtigt eine Phase der italienischen Geschichte, die fernzurücken beginnt und zeigt die unfreiwilligen Verwicklungen von Durchschnittsitalienern auf.

(Foto: Schöffling Verlag)

Fortunato, 1958 in Cirò in Kalabrien geboren, hat in Rom Philosophie studiert, arbeitet in den 1980er Jahren als Kulturjournalist und war für einige Jahre Direktor des Italienischen Kulturinstituts in London. 1988 debütierte er mit einem Erzählungsband. Schon in seinem ersten Roman, Die Kunst leichter zu werden (1997) zeigte er eine Schwäche für Verknüpfungen in Dos-Passos-Manier und entpuppt sich auch in diesem Roman, für den er 2007 in Italien den Premio Montello erhalten hat, als geschickter Konstrukteur.

Er verzichtet auf die Einheit von Raum und Zeit und verteilt die Handlung auf mehrere Schauplätze: ein italienisches Dorf unweit von Rom, Großbritannien, schließlich Afrika und sogar Russland. Eine ganze Figuren-Kompanie, deren Wege sich irgendwann kreuzen, tritt in Aktion. Erzählt wird die Phase zwischen 1940 und Kriegsende. Italien ist damals ein zerrissenes Land: Selbst Familien spalten sich auf in fanatische Duce-Anhänger, passive Gegner des Regimes und aktive Widerstandskämpfer.

Im Mittelpunkt von Unschuldige Tage im Krieg stehen die Polidoris und ihr Schwiegersohn Stefano Portelli. Die Eltern Polidori haben sich aus der Politik immer herausgehalten, aber zwei ihrer Söhne schwören Mussolini die Treue und gehen für ihn an die Front. Giovanni landet in Russland, der eitle Ernesto, überzeugt von den hehren Zielen seiner Mission, nimmt an den afrikanischen Feldzügen teil, wo er in englische Gefangenschaft gerät.

Die älteste Tochter Eleonora heiratet nach jenem folgenreichen Kuss den Rechtsanwalt Stefano Portelli, einen Sozialisten, mit dem sie tief verbunden ist. Nachdem Eleonora im Kindbett stirbt, wird die jüngste Schwester Nina auf Wunsch der älteren Brüder Stefanos zweite Ehefrau. Die Siebzehnjährige, involviert in eine Liebschaft mit Sergio, spielt bald eine wichtige Rolle im Widerstand. Mit leichter Hand entfaltet Fortunato sein gesellschaftliches Panorama, kombiniert verschiedene Textsorten und verbindet private Geschichte mit historischen Umwälzungen.

Neben dem italienischen Dorf bringt er England ins Spiel und erzählt parallel vom Schicksal des Piloten Alastair Ormiston, Cambridge-Absolvent aus der Oberschicht, befreundet mit Edna, Studienkollegin und mittlerweile Krankenschwester. Dynamisches Moment des Beziehungsgeflechts sind erotische Anziehungskräfte. Der Kuss ist Auftakt oder Höhepunkt einer Bindung: Er kann Treue oder Begehren ausdrücken, aber auch Verrat, Rache oder Schuld. So spinnt der Autor mehrere Erzählfäden in seinen Roman ein: das Coming-out Alastairs, der seine erste große Liebe bei einem Angriff über Rostock verliert, Ednas Weg zur Schriftstellerei, die Liebeswirren Ninas, die den falschen Mann geheiratet hat und politisch handelt, weil sie ihrer emotionalen Haltlosigkeit eine feste Überzeugung entgegensetzen muss, und schließlich die Ernüchterung ihres Mannes und ihrer Brüder.

Fortunato beharrt auf dem Begehren als der treibenden Kraft allen Handelns, und selbst wenn er damit recht haben mag, so wirkt die Betonung des Privaten doch manchmal allzu forciert. Politisches Denken existiert bei ihm nicht - die historischen Entwicklungen erscheinen ausschließlich im Spiegel privater Motive. Außerdem unterlaufen ihm beim Psychologisieren ab und zu klischeehafte Wendungen, etwa, wenn Alistair in seiner ersten Liebesgeschichte als Homosexueller prompt auf einen sadistischen Kriegskameraden hereinfällt. Stilistisch ist Unschuldige Tage im Krieg im Übrigen nicht sonderlich ambitioniert, aber Fortunato hat ein sicheres Gespür für Handlungsaufbau und Erzählrhythmus.

Vor allem gelingt es ihm, eine Phase der italienischen Geschichte, die fernzurücken beginnt, zu vergegenwärtigen und die unfreiwilligen Verwicklungen von Durchschnittsitalienern aufzuzeigen. Er verzichtet dabei auf Schwarzweißmalerei und leuchtet stattdessen die Grauzone aus. Angesichts des plakativen historischen Revisionismus, wie er unter Berlusconi Hochkonjunktur hat, ist das schon eine ganze Menge.

MARIO FORTUNATO: Unschuldige Tage im Krieg. Roman. Aus dem Italienischen von Marianne Schneider. Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2010. 244 Seiten, 19,95 Euro.

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