Roman über die Gefahren des Internets:Auf der Suche nach dem verlorenen Sohn

Abenteuerlich und trotzdem plausibel: In seinem Roman "Ganz normale Helden" zeigt Anthony McCarten, wie die elektronischen Medien das Unglück einer Familie verstärken können. Denn die virtuelle Realität kann grausam sein.

Meike Fessmann

Unemployment Forces Spanish Youth To Live At Home

Sohn am Rechner: Nur noch einsilbiges Gegrunze auf mütterliche Ansprache. 

(Foto: Bloomberg)

Es zeugt schon von Selbstironie, dass Anthony McCarten seinem neuen Roman eine Statistik voranstellt, als deren Quelle er "das Internet" angibt. 50 Prozent der Personen, die online gehen, heißt es dort, machen falsche Angaben über so wesentliche Dinge wie Alter, Beziehungsstatus, Beruf und Geschlecht. 20 Prozent berichten von negativen Auswirkungen auf ihr Leben. Elf Prozent entwickeln Zwangs- und Suchtverhalten. Das Internet spiele bei fast 50 Prozent aller Familien- und Beziehungskrisen eine Rolle, und es seien mittlerweile mehr Frauen als Männer online.

Dass eine solche Statistik nicht seriös sein kann, versteht sich von selbst. Clever ist es trotzdem, den Leser erst einmal mit Zahlen einzustimmen, um dann die Probe aufs Exempel zu machen.

Der in Neuseeland geborene, zeitgemäß an verschiedenen Orten, nämlich in London, Wellington und Los Angeles lebende Schriftsteller war zunächst als Theaterautor erfolgreich, bevor er auch mit Drehbüchern und Romanen reüssierte.

Wie in seinem 2006 erschienenen Roman "Death of a Superhero", dessen Verfilmung in diesem Sommer unter dem Titel "Am Ende eines viel zu kurzen Tages" in die deutschen Kinos kam, steht auch in seinem neuesten Roman die britische Familie Delpe im Zentrum. Fast ein Jahr ist es her, dass der vierzehnjährige Donald, von dessen Krebserkrankung "Superhero" erzählte, gestorben ist. Nun droht die Familie auseinanderzubrechen. Jedes der drei übrig gebliebenen Familienmitglieder geht anders mit dem Verlust um. Aber keiner kann sich dem anderen verständlich machen.

"In the Absence of Heroes", wie der Roman im englischen Original heißt, inszeniert die Tragödie der Familie Delpe als Schauspiel der Sprachlosigkeit. Und er tut dies vor dem Hintergrund einer Hypothese: Unser Alltag ist durchdrungen von elektronischen Medien, deren Präsenz wir oft gar nicht wahrnehmen, die aber gerade in Lebenskrisen unsere Lage verschlimmern können.

Anthony McCarten, 1961 geboren gehört zu jener Generation, die den Wandel vom analogen zum digitalen Zeitalter als Anpassungsdruck erlebt. Er hat einen ebenso plausiblen wie abenteuerlichen Plot ersonnen, um uns diesen Umbruch vor Augen zu führen.

Renata Delpe, die demnächst ihren fünfzigsten Geburtstag feiert, trauert nicht nur um den verstorbenen Sohn, sondern leidet auch unter Panik. Sobald der achtzehnjährige Jeff nicht pünktlich zu Hause ist, bekommt sie ihre Angst nicht mehr in den Griff. Sie "hasst es", dass sie ihn ständig anruft und sobald die Mailbox seines Handys anspringt, hysterisch schlussfolgert: "Er ist tot." Aber sie kann nichts dagegen tun.

Halbherzige Gespräche

Jim, ihr Mann, findet das lächerlich. Er ist Anwalt und hält Arbeit für die beste Medizin. Wenn sie ihn, kaum ist er zu Hause, angiftet, er solle sich mehr um den Sohn kümmern, der nur noch am Rechner sitzt und mit einsilbigem Gegrunze auf mütterliche Ansprachen reagiert, dann führt er zwar halbherzig Gespräche mit ihm, geht aber davon aus, dass sich das Problem von selber löst.

Einmal wirft Jeff ihm an den Kopf, er bleibe nur zu Hause, damit sich seine Eltern nicht trennen. Er fühle sich wie der "Kitt", der sie zusammenhält, und man solle das gefälligst würdigen, statt ständig an ihm herumzunörgeln. Eines Tages hat er genug und verschwindet spurlos.

Renata, die auf einer katholischen Website mit einem Seelsorger chattet, der sich "GOTT" nennt - die Dialoge sind beklemmend skurril -, aktualisiert regelmäßig den Facebook-Account des verstorbenen Sohnes. Sie hofft, seine Freunde würden dort weiter verkehren.

Auf dem Handy, das Jeff zurückgelassen hat, findet sie SMS, die er nach dessen Tod an seinen Bruder schrieb, und plötzlich erinnert sie sich, dass er Donalds Handy zu ihm ins Grab legte. Natürlich ist sie betroffen, dass sie seine Trauer verkannt und seine Not nicht wahrgenommen hat. Halb London plakatiert sie mit Bitten, er möge sich melden.

Anzeichen des Kontrollverlusts

Jim kommt auf eine andere Idee, und diese Idee ist der dramaturgische Kniff des Romans. Er will den Sohn im Netz treffen. Zufällig hat er einmal am Telefon mit angehört, wie Jeff seinen Avatar in "Life of Lore" nennt, dem Online-Rollenspiel, das er pausenlos spielt. So weiß er, wen er suchen muss: den "Merchant of Menace". Vom IT-Spezialisten seiner Anwaltskanzlei lässt er sich einweisen, um nun online die Fährte seines Sohnes aufzunehmen.

Wie raffiniert die Spiele gestrickt sind, bei denen man sich Level für Level emporarbeiten muss, vermag dieser Roman auch Lesern zu veranschaulichen, die keinen Drang verspüren, sich länger als nötig in virtuellen Räumen aufzuhalten. Aber auch, durch welche Details sich ein Spieler verrät. Jim mag sein Alter noch so sehr nach unten korrigieren, seine Grammatik und die pedantische Groß- und Kleinschreibung zeigen den Mitspielern, dass er kein Digital Native sein kann. Das stachelt seinen Ehrgeiz an. Immer tiefer gerät er in das Spiel, immer besser beherrscht er die Codes.

Weil es um seinen Sohn geht, kann er die Anzeichen des Kontrollverlustes verdrängen. Er vernachlässigt seinen Beruf, fährt Fälle gegen die Wand. Der Kanzlei drohen hohe Regressforderungen. Seine Partner legen ihm schließlich nahe, eine Zeit lang zu pausieren.

Anthony McCarten kann die Sogkraft des World Wide Web und die Faszination verschiedener Gadgets vorzüglich beschreiben. So stellt sich Jim die weibliche Stimme seines Navis, die ihn zum Cottage lenkt, das er für den Umzug der Familie aufs Land vorbereitet, als die Stimme einer mondänen Geliebten vor, die ihn begleitet.

Die Grausamkeit digitaler Hinterlassenschaften zeichnet der Autor mit wenigen Pinselstrichen. Da wird Renata ins Polizeirevier gerufen, man habe ihren Sohn gefasst, der sich des Online-Betrugs schuldig gemacht habe. Dort aber sitzt ein fremder Junge, der Donalds Identität im Netz abgegriffen hat.

Schlagend ist auch die Szene, als Renata hilflos vor ihrem Computer sitzt und Jim erklärt, sie könne es kaum ertragen, dass jedes Mal, wenn sie den Buchstaben "D" in die Adresszeile ihres E-Mail-Programms eingibt, Donalds Name erscheine. Er gibt ihr den Tipp, sie solle einfach seinen Namen aus dem Adressbuch löschen, und muss es schließlich selber tun, weil seine Frau nicht dazu imstande ist.

Doch Anthony McCarten kann noch mehr: wahrhaft erbarmungslose Ehe-Szenen schreiben. Eines Abends unternimmt Renata einen Versuch, die Stimmung in ihrer Ehe zum Guten zu wenden. Sie schlägt vor, nach Biarritz zu reisen, wo sie zum letzten Mal als junges Paar gewesen sind, bevor die Kinder kamen.

Am Wasserball scheiden sich die Geister

Und sie erzählt ihrem Mann, dass sie im Keller einen Wasserball gefunden hat, den Donald im letzten gemeinsamen Familienurlaub aufgeblasen hat. Sie weiß: dieser Ball enthält den Atem ihres Sohnes. Und das bringt sie fast um den Verstand. Sie wünscht sich, ihr Mann möge mit ihr darüber nachdenken, was sie mit diesem Ball machen sollen, wie sie ihn aufbewahren, vielleicht sogar konservieren könnten. Er aber sagt ihr unwirsch ins Gesicht: "Rena, das ist ein Wasserball" und empfiehlt ihr, sie solle einen Arzt oder Therapeuten aufsuchen.

Mit der Zeit werden virtuelle Realität und reales Leben immer ununterscheidbarer. Der Roman entwickelt echte Thriller-Qualitäten. Dass der Schluss dann ein wenig rührselig gerät, schadet nach der ganzen Aufregung nicht. Auf intelligente Weise unterhaltsam, wiegt "Ganz normale Helden" manches Sachbuch auf.

Anthony McCarten: Ganz normale Helden. Roman. Aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié. Diogenes Verlag, Zürich 2012. 454 Seiten, 22,90 Euro.

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