Roman "Neue Vahr Süd":Lehrjahre des ziellosen Lebens

Nachgetragene Vorgeschichte oder als Herr Lehmann noch Frank hieß. Sven Regener erzählt in "Neue Vahr Süd" die Jugend seines Romanhelden.

Von Kristina Maidt-Zinke

Nichtbremer werden mit dem Titel ein Problem haben, denn wie sollen sie wissen, ob man das Wort "Vahr" wie "wahr" oder wie "fahr" ausspricht? Auch hat jemand, der die Geburtsstadt des Autors Sven Regener nicht kennt, keine Vorstellung von den Konnotationen, mit denen der bremische Stadtteil Neue Vahr behaftet ist.

Auf 250 Hektar Ackerland, dem seinerzeit größten Wohnungsbaugebiet der Republik, war zwischen 1957 und 1963 eine Reißbrettsiedlung entstanden, die von den Bewohnern älterer, durch glücklichen Zufall den Kriegszerstörungen entgangener Viertel mit kühler Verachtung gestraft wurde, obwohl sie den damaligen Erkenntnisstand der Stadtplanung vorbildlich repräsentierte - Licht und Luft, Bad und Balkon für alle, Trennung von Wohn- und Arbeitswelt - und sogar ein Hochhaus nach Plänen von Alvar Aalto vorweisen konnte.

In der Neuen Vahr wohnte "man" nicht, und man dankte seinem Herrgott, dass man nicht zu den Dreißigtausend gehörte, die in den Wirtschaftswunderjahren dort eine neue Heimat suchten und fanden. Die Adresse "Neue Vahr Süd" ist in der Hansestadt bis heute ein Synonym für geschichts- und ereignislose kleinbürgerliche Ödnis, in der noch nicht einmal, wie in so manchem später errichteten Beton-Ghetto, massive soziale Probleme etwas Farbe in den Alltag bringen.

Dort also ist er aufgewachsen, jener nach Berlin emigrierte "Herr Lehmann", dessen Kreuzberger Kneipen-Kapriolen vor drei Jahren selbst Großkritiker applaudieren ließen. Lehmanns mit Nichtigkeiten vollgestopfte Tage und Nächte im Herbst des Mauerfalls, seine Oblomow-Attitüde und sein freundlich-nöliger Tonfall hatten offenbar einen kollektiven Nerv getroffen; vor allem aber schien die entspannte Kunstferne seines Auftretens, die anspruchslose, doch nie ganz flache Komik seiner Denkfiguren an verschüttete Bedürfnisse auch bei Schwerintellektuellen zu rühren.

Dieser retrospektive Westberliner Szeneroman wirkte wie ein von allen literarischen Finessen gereinigtes Epigonenstück zu Henscheids Frankfurter "Vollidioten".

Schwundstufen-Schlitzohr

Nun legt Sven Regener, vom Sänger und Texter der Band "Element of Crime" zum Erfolgsschriftsteller aufgestiegen, einen veritablen Ziegelstein nach. Sein neuer Roman ist fast doppelt so dick wie der Vorgänger und führt zurück ins Jahr 1980, die Zeit, als Herr Lehmann noch in Bremen wohnte und von seinen Freunden "Frankie" genannt wurde. Dass er über Bundeswehr-Erfahrung verfügte, hatte der Kreuzberger Barkeeper und Bierzapfer Lehmann bei Gelegenheit schon durchblicken lassen.

Jetzt erfahren wir, wie er aus reiner Trägheit zu den Streitkräften geriet, wie er sich durchmogelte und schließlich den Absprung in ein sinnfreies, zielloses, doch auf seine Art stimmiges und erfülltes Leben fand.

Wir erleben, wie der junge Frank Lehmann, der nach einer kaufmännischen Lehre noch bei seinen Eltern wohnt und nur widerstrebend flügge wird, allmählich lernt, Entscheidungen zu treffen, Veränderungen anzuschieben, seinem Dasein eine Form zu geben, die seiner inneren Überzeugung entspricht. Er braucht dazu ungefähr ein halbes Jahr, aber als Leser kommt einem diese Zeit viel länger vor, streckenweise sogar quälend langweilig.

Es ist nämlich so, als hätte Regener, um Frankies Frühphase mit größtmöglicher Authentizität wiederzugeben, sich auch erzähltechnisch auf eine Vor- und Schwundstufe zurückversetzt, auf ein Niveau, das von der schlitzohrigen Schlaffheit und träumerischen Trinker-Sophistik des Herrn Lehmann noch meilenweit entfernt ist.

Frankie, und mit ihm der Erzähler, nimmt die Welt wahr wie jemand, der aus seinem Jugendzimmer in der Neuen Vahr Süd die allerersten Schritte in fremde Sphären wagt, als da sind: die Bundeswehrkaserne in Dörverden/Barme, später das Äquivalent in der Neuen Vahr, wo damals noch citynah exerziert wurde, sowie eine linksaktivistische Studenten-WG im alternativen Bremer Ostertorviertel.

Was ihm an diesen Orten des Schreckens widerfährt, wird in siebenundvierzig Kapiteln bis ins redundanteste Detail protokolliert, und zwar mit einem Realismus, der so konsequent an der Oberfläche bleibt, wie man es von Jugendbüchern der unbedarfteren Sorte kennt. Bei den Bundeswehr-Episoden funktioniert die Methode bestens, denn das, was sich hinter geschlossenen Kasernentoren abspielt, ist per se so schaurig komisch, dass man es nur gewissenhaft zu dokumentieren braucht, um eine perfekte Militärklamotte vorzulegen. Für jeden jungen Mann, der wie Frank Lehmann das Verweigern des Wehrdienstes "irgendwie verpennt" oder bislang nicht in Erwägung gezogen hat, sollten diese Passagen zur Pflichtlektüre erhoben werden.

Regeners Beobachtungen in der bröckelnden Bremer K-Gruppen-Szene nach dem Deutschen Herbst sind gewiss ebenso nah an der Wirklichkeit, doch leider von sehr lendenlahmem Witz. Spätestens hier wird dem Autor zum Verhängnis, dass er sich als Meister des unzensierten Dialogs hervortun will und dass seine Beschreibungskunst sich auf das Aufzählen von Örtlichkeiten im Namedropping-Verfahren beschränkt: Wer jene Verhältnisse auch nur flüchtig kennen gelernt hat, registriert jede Menge verschenkte Pointen.

Denn das ist es doch vermutlich, was Regeners Stammleser sich wünschen: Ablachen können wie über Herrn Lehmann, nur länger. Sie müssen sich insofern umstellen, als der gelungenste Teil des Romans von eher traurigen Dingen handelt und auch keine Anstalten macht, sie ins Lachhafte zu ziehen.

Der Kraftakt eines Anti-Helden

Das beginnt beim Kapitel Nr. 41, Überschrift "Grillplatte Balkan", welches einem schicksalhaften Regen-Rendezvous beim Jugoslawen gewidmet ist, und mündet in die Schilderung des Bundeswehr-Gelöbnisses im Bremer Weserstadion, einer legendären Veranstaltung aus der lokalen Demonstrationschronik. Der blutige Zusammenprall der beiden feindlichen Milieus, von denen der Antiheld sich in einem Kraftakt emanzipieren muss, gewinnt durch Regeners quasi unschuldigen Dokumentationston eine beklemmende Eindringlichkeit.

Vielleicht liegt die wahre Stärke des Autors gar nicht im Komischen, sondern auf einem anderen Gebiet - aber für solche Prognosen ist es nach dem zwiespältigen Eindruck dieses Zweitlings noch zu früh.

SVEN REGENER: Neue Vahr Süd. Roman. Eichborn Berlin Verlag, Frankfurt am Main 2004. 582 Seiten, 24,90 Euro.

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