Roman: Madalyn:Die Sache mit Moritz

In seinem für den deutschen Buchpreis nominierten Roman "Madalyn" erzählt Michael Köhlmeier die Geschichte einer ersten Liebe. Wer da noch an Unschuld glaubt, hat nichts verstanden.

Christoph Schröder

Zuerst ist da nur ein Gedicht, in das Madalyn sich verliebt. Das Gedicht hat Moritz geschrieben. Als die beiden sich treffen, zeigt Moritz Madalyn ein Graffito, das er an die Kaimauer des Donaukanals gesprüht hat, sieben Meter breit, fünf Meter hoch. Das Gedicht, sagt Moritz, habe er gar nicht selbst geschrieben, aber das Graffito habe er nur für sie, Madalyn, angefertigt. Tage später entdeckt Madalyn in der unteren Ecke eine Widmung: "Für Claudia". Aber mit Claudia ist doch längst schon alles vorbei, oder nicht? Nun ja, sagt Moritz, in Wahrheit habe er auch das Graffito nicht eigenhändig gesprüht, sondern nur durch den Namenszug ergänzt. So geht das immer weiter. Irgendwann weiß man nicht mehr, was man noch glauben soll. Und doch ist alles so verführerisch, dass man es gerne glauben möchte.

Michael Köhlmeier - Madalyn

Früchtchen sind sie beide: Michael Köhlmeier führt anhand von Moritz und Madalyn das dämonische Potential von jugendlichem Einfallsreichtum vor.

(Foto: Carl Hanser Verlag)

Zum einen ist die Pubertät ein Zustand der absoluten Wahrheit, weil ein Mensch die Welt der Erwachsenen zu keinem anderen Zeitpunkt besser zu durchschauen vermag als in jenem Augenblick, in dem er sich selbst anschickt, erwachsen zu werden - eine eigentümlich hellsichtige Phase. Zum anderen aber dürften sich Menschen kaum so fremd sein wie Eltern und deren Kinder während der Pubertät. Die Familie, ohnehin eine fragile Konstruktion, kann sich da schnell als zufällige Zwangsgemeinschaft erweisen.

Moritz ist 16, Madalyn etwas jünger. Ein ungewöhnliches Mädchen. Michael Köhlmeier führt anhand der beiden das dämonische Potential von jugendlichem Einfallsreichtum vor. Wer da noch von Unschuld reden mag, hat nichts verstanden. Der Katalysator für diese Geschichte lebt in der Wohnung über Madalyn und ihren Eltern, heißt Sebastian Lukasser, ist von Beruf Schriftsteller und Köhlmeier-Lesern bereits als Erzähler des opulenten "Abendland"-Romans bekannt. Lukassers Biographie - der Vater hat Selbstmord begangen - dient auch in "Madalyn" als Spiegel einer missglückenden Vater-Tochter-Beziehung in der Wohnung unter Lukasser. Und die Mutter ist noch schlimmer. Nur stellt sich auch hier wieder die Frage: Was darf man glauben und was nicht?

Als Madalyn fünf Jahre alt ist, bringt Lukasser ihr das Fahrradfahren bei. Als sie ein paar Tage später von einem Auto angefahren wird, ist es wiederum er, der sie versorgt und ins Krankenhaus bringt. Er wird zu ihrem Vertrauten, zu ihrem Schutzengel: "Wenn ich sie eine Woche lang nicht gesehen oder gehört hatte, wurde ich unruhig." Und dann also, zehn Jahre später, die Sache mit Moritz, dem fabelhaften Lügner und Geschichtenerfinder. Der Reiz in Köhlmeiers Roman liegt unter anderem in dem virtuosen Spiel mit der Täuschung, dem sich der Schriftsteller, in ureigenster Profession selbst ein Geschichtenerfinder und Täuschungsvirtuose, ausgesetzt sieht. All das geschieht mit Eleganz und Leichthändigkeit, im plaudernden Alltagston, den Köhlmeier so glänzend beherrscht und hinter dessen vermeintlicher Harmlosigkeit sich fundamentale Einsichten verbergen. Ganz nebenbei gerät Lukasser in manipulative Zusammenhänge, die ihn selbst immer wieder staunen lassen.

Doch das ist nicht alles. Köhlmeier, das ist deutlich zu spüren, hat eine ebenso große Sympathie für seine heranwachsenden Protagonisten wie der Schriftsteller Lukasser auch. Und aus diesem Grund ist "Madalyn" auch schlicht und einfach die mit Einfühlungsvermögen und vor allem ohne die Lüsternheit des Alternden erzählte Geschichte einer ersten Liebe zwischen einem schlauen Mädchen und einem Jungen mit fragwürdigem Ruf. Früchtchen sind sie beide, Aufschneider, Angeber. Unsicher gegeneinander; umso gewiefter, wenn es darum geht, ihre Umwelt in die Irre zu führen. Vor dem Spiegel geht Madalyn auf und ab, "bewegte Mund und Hände, wie man es tat, wenn eine tiefgründige, vielleicht sogar traurige Diskussion geführt wurde".

Auch das ist eine der elementaren Beobachtungen: Wenn man allein ist, hätte man dem anderen so viel zu sagen. Zu zweit schweigt man sich dann an. Die moderne Kommunikation in Form von Mobiltelefonen, die funktionieren und mal auch nicht, deren Prepaidkarten mal aufgeladen sind oder auch nicht, gibt diesen chaotischen Kommunikationsstrukturen eine komische Note: Acht Anrufe in Abwesenheit und keine Chance, zurückzurufen - das ist die heutige Tragik des rein theoretisch jederzeit erreichbaren Liebenden.

Zu einer ersten Liebe gehört zwangsläufig deren trauriges Ende. Noch einmal: Sebastian Lukasser ist allein auf das angewiesen, was Madalyn ihm bei ihren Treffen erzählt. Es mag stimmen oder nicht, wichtig ist es nicht. Wenn Madalyn es erfunden haben sollte, ist es gut erfunden. Die Verzweiflung jedenfalls ist echt. Lukassers schriftstellerische Tätigkeit leidet in dieser Zeit; sein Roman kommt nicht voran, weil ihm gerade ein anderer erzählt wird. Michael Köhlmeier hat ihn aufgeschrieben - ein kleines, äußerst charmantes Buch, das die Möglichkeitsfelder von Literatur thematisiert und zugleich in alle Richtungen erkundet.

MICHAEL KÖHLMEIER: Madalyn. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2010. 174 Seiten, 17,90 Euro.

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