Roman:In Heidelberg, verloren

Eine fulminante Wiederentdeckung: "Der Sonnenwächter" von Charles Haldeman schilderte 1963 den KZ-Alltag und die Nachkriegsboheme.

Von Helmut Böttiger

Als dieses Buch 1963 erschien, erhielt es euphorische Kritiken. Es ist kaum glaublich, dass Charles Haldeman heute vergessen ist. "The Sun's Attendant" wurde sofort in alle wichtigen europäischen Sprachen übersetzt - aber nicht ins Deutsche. Hier beginnt etwas Rätselhaftes, hier führen abenteuerliche Pfade zurück in eine heimliche Literaturgeschichte, zumal "Der Sonnenwächter" über weite Strecken im Deutschland der Fünfzigerjahre spielt.

Der US-Amerikaner Charles Haldeman stammte aus einer deutschen Familie, sein jüdischer Vater hatte in Heidelberg studiert, und diese Herkunft schien etwas Magisches auszustrahlen: Haldeman studierte in den Fünfzigerjahren ebenfalls eine Zeitlang in Heidelberg, bevor er sich 1957 in Griechenland niederließ und als Sprachlehrer durchschlug. Haldeman starb dort 1983 mit 51 Jahren. Es gibt keinerlei Hinweise auf die Entstehungsbedingungen und die persönlichen Erfahrungen, die in seinen fulminanten Debütroman eingegangen sein könnten. Wir haben nur den Text. Und dieser ist für das Jahr 1963 atemberaubend avanciert, mit einer raffiniert konstruierten, aus Bruchstücken zusammengesetzten Form, einer poetisch-assoziativen Sprache und kühnen Perspektivwechseln - ästhetisch vollkommen auf der Höhe seiner Zeit, und im damaligen Deutschland unerhört.

Die Hauptfigur Stefan Brückmann gehört ungefähr derselben Generation an wie der Autor. Anders als dieser stammt Stefan jedoch nicht aus einer jüdischen, sondern aus einer Roma-Familie. Er ist der Sohn eines über die Lande ziehenden Roma-Angehörigen und einer Berliner Bürgerstochter, die im Alter von 19 Jahren von zu Hause durchbrennt. Das Leben des fahrenden Volks, mit dem der junge Stefan in den Dreißigerjahren durch Europa zieht, ist hier detailreich geschildert - bis hin zum Konzentrationslager, das Stefan nur durch einen puren Zufall überlebt.

Two American students sauntering along a Heidelberg street, cause staid German women to look at them in wonderment.

Zwei amerikanische Studentinnen im Heidelberg der Fünfzigerjahre.

(Foto: The LIFE Picture Collection/Getty Images)

Der Alltag im KZ nimmt in diesem Roman einen größeren Raum ein. Das war im Erscheinungsjahr 1963 noch sehr ungewöhnlich und in Deutschland nahezu unvorstellbar. Und die Darstellung weist weit voraus in die Zukunft: einen Vergleich hat sie nur im "Roman eines Schicksallosen" von Imre Kertész. Der halbwüchsige Stefan nimmt die Umgebung in Auschwitz als selbstverständlich hin, als Normalität. Er schlägt sich durch, schließt Freundschaften, und vor allem die Erlebnisse in einer dem KZ angeschlossenen, absurden Gärtnerei werfen von einem bizarren Rand her ein charakteristisches Licht auf die Lebensumstände.

Das zart angedeutete homosexuelle Verhältnis mit dem etwas älteren Hannes, dessen Abhängigkeit von dem undurchsichtigen Funktionär Lokowandt, der ein merkwürdig privilegierter Gefangener zu sein scheint - das ist eine Konstellation, die psychisch stark aufgeladen ist und in ihrer literarischen Ausformung Elemente eines Thrillers entwickelt. Dieser Autor wird nie pathetisch. Aber durch seinen schrägen Realismus wird der Schrecken in jeder Zeile transparent.

Roman: Charles Haldeman, geboren 1931 als Sohn deutscher Auswanderer in South Carolina, starb 1983 in Griechenland.

Charles Haldeman, geboren 1931 als Sohn deutscher Auswanderer in South Carolina, starb 1983 in Griechenland.

(Foto: Metrolit Verlag)

Für Deutschland, wo der Roman damals nicht erschien, ist dieses Buch eine Sensation

In diesem Roman stecken mehrere Romane, und es gehört zur der stupenden Konzeption Haldemans, dass alles miteinander verwoben ist. Stefan Brückmann erzählt in der ersten Hälfte sein Leben in Form eines Tagebuchs, das ihm von einem Freund in Paris in der Mitte der Fünfzigerjahre abgefordert wird. Nach dem KZ wurde er als "Displaced Person" zunächst in einem amerikanischen Militärkrankenhaus gepflegt und von einem dort arbeitenden Amerikaner adoptiert. Die daran anschließenden Jahre in den USA werden in wenigen, symbolischen Szenen festgehalten, und der ältere Freund Moon ist in seiner Verzweiflung, seiner Sanftheit und Ausweglosigkeit eine Gestalt, die einiges über die existenzialistische Stimmung dieser Zeit verrät. Stefan brach danach wieder nach Europa auf und stößt als junger Lyriker in Paris auf Immanuel, der ihm nahelegt, sich über seine Biografie Rechenschaft abzulegen. In dem Tagebuch, das Stefan nun schreibt, sperrt er sich lange dagegen, er will sich nicht erinnern. Aus dieser gebrochenen Form erklärt sich die Wirkung des Textes.

Stefan entschließt sich, nach Heidelberg weiterzureisen. Das Leben der akademischen Bohème dort bildet die zweite Hälfte dieses Romans: mit Dachkammern am Neckar, in denen aus einer diffusen intellektuellen Verlorenheit heraus diskutiert wird, mit der Sehnsucht nach Erlösung, mit abgerissenen Jungliteraten und heimatlosen Professoren, die aus der Emigration zurückgekehrt sind und auf chamäleonhafte Nazi-Kollaborateure stoßen. Man legt einen Würfel Rama-Margarine auf den Tisch und ein paar Scheiben verblichenen Aufschnitts, trinkt Steinhäger und redet sich die Köpfe heiß und leer: "Die Mädchen sehen alle wie aus dem Wasser gezogen aus, und von den jungen Männern trägt keiner eine gut sitzende Hose."

Roman: Charles Haldeman: Der Sonnenwächter. Ein Diptychon. Metrolit Verlag, Berlin 2015. Aus dem Englischen von Egbert Hörmann und Uta Goridis. 335 Seiten, 25 Euro. E-Book 19,99 Euro.

Charles Haldeman: Der Sonnenwächter. Ein Diptychon. Metrolit Verlag, Berlin 2015. Aus dem Englischen von Egbert Hörmann und Uta Goridis. 335 Seiten, 25 Euro. E-Book 19,99 Euro.

Was diesen Roman darüber hinaus für die engere deutsche Literaturszene zur Sensation macht, ist, dass hier nur wenig verschlüsselt eine mythische Figur der unmittelbaren Nachkriegszeit auftaucht, die dennoch real existierte: der junge Lyriker Rainer Maria Gerhardt, der in den Jahren nach 1950 Kontakt zur aktuellen US-Literatur suchte, sich mit Lyrikern wie Charles Olson und Robert Creeley befreundete und in den erschienenen Nummern seiner Zeitschrift fragmente eine Modernität vorwegnahm, die in der Bundesrepublik erst im Laufe der Sechzigerjahre langsam an Geltung gewann. Gerhardt beging 1954 im Alter von 27 Jahren Selbstmord.

Die Widmung in Haldemans Roman lautet nun: "Für Renate", und damit ist Renate Gerhardt, die Ehefrau des jungen Dichters, gemeint. Das Liebesverhältnis, das Haldeman und Renate Gerhardt eine Zeitlang in Heidelberg verband, spiegelt sich im Roman in der Beziehung zwischen Stefan Brückmann und der Dichterwitwe Regina Speer. Als Uwe Pörksen 2007 bei Wallstein das Gesamtwerk Gerhardts edierte, schien es, als wisse man nun alles über diesen Dichter. Pörksen hatte umfassend recherchiert und die spärlichen Lebenszeugnisse restlos zusammengetragen. Nun aber lässt dieser Roman in den Gesprächen Regina Speers mit Stefan Brückmann über Paul Speer diesen Rainer Maria Gerhardt sehr viel plastischer werden: den Alltag seines Lebens, die psychischen und materiellen Schwierigkeiten, bis hin zur unheilvollen Rolle seiner Stiefmutter. Man kann sich vorstellen, dass Renate Gerhardt, als sie das ihr gewidmete Buch las, den Wunsch äußerte, dieser Roman möge nicht in Deutschland herauskommen.

Aber das bildet nur einen Sonderstrang in diesem außerordentlichen Roman. Am Ende findet Stefan Brückmann in einem fast mystischen Erlebnis seine Herkunft wieder: bei der Begegnung mit halbwüchsigen Roma-Musikern und -Tänzern in einem Jazzclub. Der etwas esoterische Titel "Der Sonnenwächter" hat mit den Erzählungen der Roma zu tun, die sich Charles Haldeman, der in den USA und Europa lange umherziehende Schriftsteller, anverwandelte. In diesem Buch tritt einem die Geschichte des 20. Jahrhunderts auf ungeheuer neue Weise vor Augen, in einer mal kristallinen, mal waghalsigen, aber immer dichten und packenden Sprache. Ein Geniestreich.

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