Roman:Ganzkörper-Tattoos unter Kunsthimmel

Bestsellerautor Eugen Ruge erzält in seinem neuen Roman "Follower" von seinem "fiktiven Enkel", der am 1. September 2016 geboren wird - also jetzt. Ein sehr unterhaltsames Buch.

Von Jörg Magenau

Es ist eine sorgfältig geplante, konzertierte Aktion: Wenn am 1. September 2016 Eugen Ruges neuer Roman "Follower" erscheint, dann ist der Erscheinungstag zugleich der Geburtstag des Romanhelden Nio Schulz. Mit dem Buch erblickt er das Licht der Welt, so ist das nun mal im Kosmos der Literatur, wo Menschen nicht geboren werden, sondern ausgedacht sind. Im Roman feiert Nio Schulz bereits seinen 39. Geburtstag, denn wir befinden uns mit ihm im Jahr 2055 in HTUA-China, das in verschiedene Kommerzzonen aufgeteilt ist. Was es heißt, in dieser zukünftigen Welt in einem Hotelzimmer aufzuwachen und die Datenbrille "Glass" nicht gleich zu finden, dann aber in einen verwirrenden Tag hineinzuschlittern, davon erzählt Eugen Ruge mit Lust und Leidenschaft. Die Zukunft wird der Horror, alles ist "pisi" und streng normiert und kontrolliert. Die Zukunft wird aber auch sehr, sehr komisch. Die Frage ist nur, ob die menschlichen Funktionseinheiten das noch bemerken.

"Vierzehn Sätze über einen fiktiven Enkel" heißt dieser Roman im Untertitel, und tatsächlich handelt es sich - von einigen Einschüben abgesehen, Akten und Statistiken einer ermittelnden Behörde - um vierzehn sehr lange Sätze in vierzehn Kapiteln, in denen der atemlose Sog der Prosa als Vollzug des unendlichen Gedankenstroms des Helden erst am Kapitelende zu einem erlösenden Schlusspunkt und zur Ruhe findet. Wobei: "Gedanken" ist eigentlich zu viel gesagt, Nio Schulz denkt zwar unentwegt in dem Sinne, dass jede Menge in ihm vorgeht, aber er ist zugleich so sehr Spielball der Datenströme, Tweets, Postings, Hashtags und @dpa-Tickermeldungen, die vor ihm auf seiner virtuellen Projektionsfläche ablaufen, dass er ausschließlich damit beschäftigt ist, all dem hinterherzustolpern und in Panik zu geraten, wenn einmal eine Sekunde lang nichts passiert.

Roman: Eugen Ruge gelingt eine raffinierte Fortsetzung seines Bestellers "In Zeiten des abnehmenden Lichts".

Eugen Ruge gelingt eine raffinierte Fortsetzung seines Bestellers "In Zeiten des abnehmenden Lichts".

(Foto: Regina Schmeken)

Ganz nebenbei lässt Ruge eine Welt entstehen, in der die UNO in Australien Atombomben zündet, um mit dem in die Atmosphäre geschleuderten Staub ihr Klimaprogramm durchzuführen. Der letzte Eisbär ist gerade in einem Zoo gestorben, und die Burger für die verbliebenen Nichtveganer bestehen aus In-vitro-Fleisch, das Schulz aber an In-vitro-Fertilisation erinnert und das er deshalb nicht essen will. Wer mag schon gegrillten Fötus.

Mit dem fiktiven Enkel aber verhält es sich so: Ein Enkel ist schließlich nicht irgendeine Figur, sondern ein nachfolgendes Familienmitglied, also ein "Follower", denn das sind ja nicht nur Leute, die bei Twitter einer Person folgen. Es handelt sich also um einen umgekehrten, in die Zukunft verlagerten Familienroman und damit um eine ziemlich raffinierte Fortsetzung von Ruges großem Bestseller "In Zeiten des abnehmenden Lichts". Da hatte er über vier Generationen hinweg das Panorama einer vom Sozialismus und vom Leben in der DDR geprägten Familie, seiner eigenen, entworfen und sich selbst in der Figur des Alexander Umnitzer, der kurz vor dem Mauerfall in den Westen ging, ein Alter Ego geschaffen. Dieser Alexander lebt nun weiter als fiktiver Autor von "Follower". Einerseits. Andererseits erfährt der fiktive Enkel im Jahr 2055, dass sein Großvater vor ein paar Tagen gestorben ist. Und er erfährt, dass es sich bei diesem in seinen Augen skurrilen alten Herrn, der einmal mitten im Weihnachtsessen aufgestanden und nach Florida geflogen sein soll, bloß weil jemand bei Tisch telefoniert habe, um einen einst sehr erfolgreichen Autor handelte. Wer hätte das gedacht.

Mit diesem Kniff, sich selbst aus der Zukunft heraus zu spiegeln und sterben zu lassen, nimmt Ruge alle an seinen großen Erfolg geknüpften Bestsellerautor- und Familienromanerwartungshaltungen elegant auf die Schippe. Der Familienroman ist ja definitionsgemäß ein dokumentierendes, vergangenheitsbezogenes Genre. Ruge macht daraus nun Science-Fiction, womit sich auch die Familie endgültig in eine Erfindung verwandelt. Aber was ist Fiktion, wenn die technisch gestützte Wirklichkeit ungreifbar geworden ist? Unklar, ob die "unfarbenen" Gardinen im Hotelzimmer echt sind und ob sich dahinter wirkliche Fenster, echte Imitate oder Scheinimitate verbergen. Auch der Himmel über der großen chinesischen Stadt ist vermutlich eine Nachbildung in Universe-Blau, denn sonnige Tage gibt es schon lange nicht mehr wirklich.

Leseprobe

Einen Auszug aus dem Roman stellt der Verlag hier zur Verfügung.

Die Menschen, die unter diesem Kunsthimmel ihren Geschäften nachgehen, haben aufgehört "Subjekte" zu sein, Subjekte in dem Sinn, dass klar wäre, was zu ihnen gehört und was nicht, und dass es irgendwo eine erkennbare Grenze gibt zwischen innen und außen. Sie tragen ziemlich viele Implantate, "Scheintitten", Silikon-Bizepse (weil das gesünder ist als Muskeltraining), falsche Hinterteile und virtuelle Ganzkörpertattoos, aber auch ins Gehirn implantierte Chips, die die Hormonausschüttung steuern oder für eine angenehme Morgenstimmung sorgen. Der permanente Zufluss von Daten und Bildern versetzt sie sowieso in eine Welt, in der schwer zu bestimmen ist, was real, was Bild und was Abbild ist. Was ist der Wirklichkeitsstatus von fotoidentischen Gasmasken? Wie natürlich ist das natürliche Ephedrin in einem Decaff-Soja-Macchiato? Und wie real ist das 3-D-Foto der noch namenlosen Tochter, das ein Schulfreund direkt von der Webcam im Uterus der ukrainischen Leihmutter schickt?

Es ist klar, dass in dieser Welt Identitäten zum Problem geworden sind, auch wenn die Datenbrille unentwegt die "identity" "checkt". Die eigene Leiblichkeit und die Körper der anderen bleiben Störfaktoren, die nicht ganz auszuschalten sind. Das beginnt mit der unkontrollierten Morgenerektion, wenn sich unter der Dusche "das Wesen" erhebt, und setzt sich im eigentlich geschlechtergetrennten Aufzug fort, wenn plötzlich und völlig irregulär eine leibhaftige Frau zusteigt. Denn eine Frau auch nur anzuschauen könnte zu schwerwiegenden Verwicklungen führen, zu Anklagen wegen sexueller Übergriffigkeit.

Roman: Eugen Ruge: Follower. Vierzehn Sätze über einen fiktiven Enkel. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2016. 320 Seiten, 22,95 Euro. E-Book 19,99 Euro.

Eugen Ruge: Follower. Vierzehn Sätze über einen fiktiven Enkel. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2016. 320 Seiten, 22,95 Euro. E-Book 19,99 Euro.

All das, was wir aus unserer Gegenwart kennen, steigert Ruge ins Groteske - und es ist wohl gar nicht so unwahrscheinlich, dass es genau so kommen wird. Alles "pisi", nur die Gedanken bleiben manchmal noch unkorrekt, so etwa, wenn Nio Schulz bei seiner bulgarischen Chefin statt negativ immer "negertief" versteht. Was "Neger" einmal bedeutet hat, weiß er aber nicht, er weiß nur, dass es sich um ein schlimmes Unwort handelt, sodass "negertief" noch viel negativer als negativ ist.

Die Zeugungswahrscheinlichkeit ist auch für Nio Schulz eigentlich gegen null

Der Erzähler folgt Nio Schulz und seinen Gedanken in unmittelbarem Präsens. Der ganze Roman umfasst nicht mehr als ein paar Stunden eines Vormittags. Doch bei dem Meeting mit den Chinesen, das um zehn Uhr beginnen soll, kommt Nio Schulz nicht an. Lost in reality. Aber weil man in dieser kontrollierten und "pisi"-geregelten Welt nicht verloren gehen kann, beginnen sofort die Ermittlungen der "European Security and Anti-Terror Facilities", die in Aktenform dokumentiert sind. Das sind die einzigen Seiten, die mit ihren Statistiken ein wenig ermüden. Als diplomierter Mathematiker hat der Erzähler Eugen Ruge aber auch daran seine Freude.

Als Einschub gibt es zudem eine aberwitzige "Genesis" in Kurzfassung, eine quer im Romangeschehen steckende Erzählung, die vom Urknall (wenn es ihn denn gegeben hätte) über Jahrmilliarden bis zur Zeugung des Nio Schulz führt. Mit dieser Hochgeschwindigkeits-Familiengeschichte knüpft Ruge noch einmal anders an "In Zeiten des abnehmenden Lichts" an. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein bestimmtes Wesen zu einer bestimmten Zeit gezeugt wird, ist, wenn man die Sache nicht von ihrem Ende her, sondern von allem Anfang an betrachtet, im Grunde gleich null. Trotzdem entsteht so etwas wie ein Individuum, eine Figur, von der sich erzählen lässt, auch wenn sie am 1. 9. 2016 gerade erst geboren wird. Dieses Rätsel wird auch im Jahr 2055 ungelöst sein. Eugen Ruge hat daraus einen grotesken, sehr komischen und äußerst unterhaltsamen Roman über unsere absurde Gegenwart gemacht.

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