Roman "Exodus":Von der Mafia lernen

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Moskau, 19. Mai 2012: Demonstrantin mit einem Pop-Porträt des Präsidenten, knapp zwei Wochen nach der dritten Amtseinführung von Wladimir Putin. Die politische Opposition in Russland ist oft ästhetische Opposition.

(Foto: dpa)

Russland als Dritte-Welt-Land: Im Pop-Roman "Exodus" von Piotr Silaev jagt die Hauptfigur von einer Massenschlägerei zur nächsten. Es ist ein Buch voller Widerwärtigkeit, Überdruss und Traurigkeit.

Von Felix Stephan

Demokratie, sagt Piotr Silaev, ist das Letzte, was man gebrauchen kann, wenn man in Russland Einfluss gewinnen möchte. Ein Bekannter habe es einmal versucht und sich für das Moskauer Stadtparlament aufstellen lassen. Natürlich wurde er nach einem seiner ersten Radiointerviews sofort verhaftet und ist ins Gefängnis gewandert, der Idiot. Piotr Silaev muss lachen. Da müsse man auch erst mal drauf kommen.

Der Kreml sei für die Russen verloren, sagt Silaev, er sei von einer verschworenen Clique aus sowjetischen Ex-Militärs besetzt wie von einer feindlichen Macht. Außerdem werde der Einfluss, den Politiker in Russland tatsächlich haben, vom Ausland ohnehin überschätzt: Echte Geltung erlange man nur als Teil einer Mafia. Es säßen heute weit mehr von den rechtschaffenen Bürgern aus dem Moskauer Viertel, in dem er aufgewachsen ist, im Gefängnis als von den militanten Anarchisten und Linksextremisten, mit denen er jahrelang Nazis und Polizisten angegriffen hat.

Denn diese antifaschistische Bewegung, die er etwa 2003 mit einer Handvoll Freunden angestoßen hat, sei mittlerweile stark genug, um Polizisten zu bestechen, Anwälte zu bezahlen und ihre Leute aus dem Gefängnis zu holen. Man müsse so mächtig werden, dass sich die Staatsmacht verhandlungsbereit zeigt. Anders gehe es nicht.

Als Staatsbürger ist der 1985 geborene Piotr Silaev Straßenkämpfer und Konspirateur, als Romanautor hingegen orthodoxer Ästhetizist. Als er im August 2013 in einer dieser sumpfigen Drogenbars in Berlin-Neukölln seinen brillanten Läuterungsroman "Exodus" vorstellte, trug er die Haare gekämmt und das weiße Hemd gebügelt. Dann sagte er: "Man sollte alle nach 1985 geborenen Russen nach Auschwitz schicken. Das schließt mich mit ein." Die Interviewerin ist fassungslos, Silaev schaut sachlich diesem Satz hinterher. Ein Satz wie eine Tretmine, ein Satz wie: "Ab einem bestimmten Alter sehen alle Deutschen aus wie komplette Nazis", wie er vor fast zwanzig Jahren in Christian Krachts Roman "Faserland" stand, heute längst Schullektüre. Irrsinnig, komplett daneben und genau richtig, ein echter Dichter-Satz. Die Interviewerin versucht den Auschwitz-Satz zu politisieren, Silaev spricht leise über Existenzialismus. Ein guter Moment.

Rasanter Stil als radikal empfunden

Piotr Silaev hat seinen Roman im Winter 2008 in Griechenland geschrieben, während dort die Ausschreitungen gegen die Sparvorgaben der EU einen Höhepunkt erreichten. Dann hat er etwas Geld zusammengekratzt und in Eigenregie 1500 Exemplare gedruckt. Der rasante Stil des Romans wurde in Russland als radikal, wüst und neu wahrgenommen, weil dort "nie Beat-Literatur gelesen wurde", wie Silaev sagt: "Eigentlich bin ich eher altmodisch, aber die russische Literatursprache hat sich seit 40 Jahren nicht weiterentwickelt. Das klingt immer noch alles nach Turgenjew. Zakhar Prilepin etwa wird als literarischer Revolutionär gehandelt, dabei ist er nur ein neuer Maxim Gorki."

Innerhalb weniger Wochen war das Buch, das kaum beworben und ausschließlich über kleine Nischen-Buchhandlungen vertrieben wurde, vergriffen. Kurz darauf druckte Russlands größte Literaturzeitschrift einen Auszug und forderte zehn Kritiker auf, den Text zu besprechen. Es kamen fünf begeisterte und fünf vernichtende Kritiken zurück, danach war das Buch bekannt, sein Autor allerdings noch immer ein Enigma: Silaev hatte das Buch unter dem Pseudonym "DJ Stalingrad" veröffentlicht, nur engste Freunde wussten, wer es geschrieben hatte.

Während das literarische Moskau seinen Roman diskutierte, attackierte der private, also politische Piotr Silaev mit Freunden ein Verwaltungsgebäude in Sankt Petersburg, um gegen die Rodung eines örtlichen Wäldchens zu protestieren. Das brachte ihm einen landesweiten Haftbefehl ein, weshalb er 2010 politisches Asyl in Belgien beantragte. Kaum angekommen, reiste er weiter nach Polen, um auf einer Konferenz europäischer Anarchisten zu sprechen, obwohl er als Asylsuchender das Land nicht hätte verlassen dürfen. Die polnische Polizei griff ihn ohne Papiere auf, und Silaev verbrachte wegen Verstoßes gegen das Asylrecht drei Monate in polnischer Abschiebehaft. Pro Tag durfte er nur fünf Minuten telefonieren, doch das reichte: Vom Gefängnistelefon aus verkaufte er "Exodus" an ein großes russisches Verlagshaus und handelte außerdem die finnischen Übersetzungslizenzen aus.

Das politische Asyl in der EU wurde ihm schließlich gewährt, heute lebt Silaev in Helsinki und schreibt für große russische Tageszeitungen: "Die Medien haben wir komplett infiltriert. In allen großen Zeitungen arbeiten Freunde von mir. Nur das Fernsehen ist noch von den Machthabern besetzt. Den Oligarchen, denen die Zeitungen gehören, gefällt unsere Arbeit, weil die Auflage stimmt. Es ist wie im Traum: Noch vor zehn Jahren war es eine Schande, in Russland links zu sein, die Nazis haben die Straßen beherrscht. Um die alten kommunistischen Eliten auszuschalten, sind die Jungen nach dem Ende der Sowjetunion mit ultra-rechtem Populismus nach oben gekommen. Sie waren monarchistisch, nationalistisch und rassistisch. Und heute kommentiere ich die russische Politik in den größten Zeitungen des Landes."

"Exodus" ist ein Poproman im Sinne von Rainald Goetz, ein druckvolles, rasendes Bildgewitter voller Widerwärtigkeit, Überdruss und Traurigkeit. Gott ist lange tot, die Welt grob und grausam - super, da geht was. Silaevs Ich-Erzähler ist ein verzweifelter Idealist, der von seiner Gegenwart wenigstens etwas Schmerz erpressen möchte: "Ich spüre gerne Schmerz. Es ist das einzige, was mir geblieben ist, auch wenn es unangenehm ist, das zuzugeben. Von Kindheit an hat mich das Leben gelehrt: Liebe den Schmerz."

Der Erzähler jagt von einer Massenschlägerei zur nächsten, ständig prügeln junge Männer mit Eisenstangen und Baseballschlägern so lange aufeinander ein, bis sie entweder fast tot sind oder von Spezialeinheiten überwältigt werden und sich gefesselt auf dem Boden wiederfinden: "Es begann ein Gemetzel, alles kam zum Einsatz - Pistolen, Gas, Messer, Baumaterialien, Metallsperren, Rolltreppenteile. Besonders eindrücklich waren die gläsernen Deckenleuchten, sie wurden zu langen spitzen Scherben zerschlagen, Blut floss in Strömen."

Dritte-Welt-Land durch Demokratie

In den örtlichen Hospitälern lassen sie sich notdürftig zusammennähen, verprügeln die Ärzte und gehen bei nächster Gelegenheit wieder aufeinander los. Um Politik geht es dabei nicht, in keiner Zeile erwähnt Silaev, was für Gruppen hier eigentlich wofür kämpfen. Die Schlägereien, die zertrümmerten Schädel, die aufgeschlitzten Rücken, das ist alles Selbstzweck, eine große existenzielle Metapher für das Schuldhaft-Irdische. Silaev hat an der Staatlichen Moskauer Humanistischen Universität Religionsgeschichte studiert. Sieben Studenten gab es an seiner Fakultät. "Meine Familie hält mich bis heute für einen Verlierer", sagt der vielfach übersetzte Silaev.

Demokratie spielt auch deshalb in keiner Bewegung im politischen Spektrum Russlands eine Rolle, weil sie so eng mit dem Neoliberalismus verbunden ist, von dem sich viele Russen ausgeplündert und verraten fühlen. Silaev zufolge hat die Demokratie Russland in ein Dritte-Welt-Land verwandelt, er spricht von kongolesischen Verhältnissen, gesetzlos, gewalttätig, in der Hand von Clanchefs: "Laut der Unesco hat Russland weltweit den vierthöchsten Bevölkerungsanteil an Universitätsabsolventen. Beim Wohlstand liegen wir aber ungefähr auf Platz 50 und bei Korruption wahrscheinlich auf Platz eins. All diese verrückten, besoffenen, aggressiven Russen, die man immer in den Youtube-Videos sieht, haben Tolstoi in der fünften und Dostojewski in der sechsten Klasse gelesen. Heute träumen sie davon, irgendwie in die Mafia zu kommen. Wir sind eine riesige Gesellschaft gebildeter, verzweifelter Menschen, die in eine Welt geworfen wurden, in der derjenige recht bekommt, der die Pistole in der Hand hat. Natürlich drehen wir durch."

Die postsowjetische Generation nimmt Silaevs Erzähler als degeneriert und ekelhaft wahr, als Komplementärkontrast zu den "echten Sowjetmenschen", von denen es nicht mehr viele gebe. "In einem zerstörten Land versuchten wir Mensch zu sein", heißt es. Oder, nah bei Lacan: "Schmerz - als solchen nehmen wir die Umwelt wahr. . . . Der Schmerz macht uns unempfindlich gegen Schmerz, und jetzt stehen wir allein, mitten auf dem endlosen Feld." Nach siebzig Seiten besinnungslosem Gemetzel wie bei Remarque, melancholischem Biodeterminismus wie bei Houellebecq, heilloser Verklärung der Integrität einer abgesetzten Generation wie bei Ernst Jünger, stirbt der Erzähler, der als humanistisches Ideal schon lange tot ist, bei der tausendsten Schlacht auch innerlich: "Das, was mir in den letzten Jahren fast die einzige Freude war, hatte an diesem Tag keine, überhaupt keine Gefühle hervorgerufen, es war bloß eine routinemäßige Schlägerei mit wem auch immer. Ich spüre Schwermut."

Natürlich geht das alles nicht gut aus, am Ende stirbt Fedja, der beste Freund des Erzählers und sein Mentor in Menschlichkeitsdingen: Aufrichtigkeit, Güte, Fürsorge. Eigentlich stirbt er nicht, er wird vielmehr geschlachtet, die Messerstiche hageln auf ihn nieder, keiner von ihnen an sich tödlich, er leidet Höllenschmerzen, sein Tod zieht sich hin. Als sein Körper abtransportiert wird, reißen die Polizisten Witze über einen weiteren tätowierten Skin, um den sie sich nicht mehr kümmern müssen. Fedjas Tod ändert natürlich nichts, er ist so sinnlos wie alles andere.

Aber die beharrliche Wut, mit der der Erzähler Gott angreift, weist diesen dann doch als seinen ersten und letzten Ansprechpartner aus. Schließlich kann sich jemand nur dann verraten fühlen, wenn er, wie der Erzähler dieses bis in die Springerstiefelspitzen moralischen Romans, im Innersten Geborgenheit einfordert.

Piotr Silaev: Exodus, Aus dem Russischen von Friederike Meltendorf. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2013. 136 Seiten, 14,90 Euro.

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