Roman "Die Häuser der anderen":Wie es zu sein hat

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Das eigene Dasein als bürgerliches Projekt: In dem beunruhigenden Roman "Die Häuser der anderen" schleichen sich die Romanfiguren in fremde Leben ein und spionieren sie aus. Silke Scheuermann fängt das Lebensgefühl der "Generation Manufactum" ein.

Von Christoph Schröder

So elegant ist man zu Beginn eines Romans schon lange nicht mehr auf eine falsche Fährte geleitet worden: Luisa, Mitte dreißig, studierte Kunsthistorikerin, geht an einem stillen Sonntagmorgen durch ihr aufgeräumtes Haus in einer bevorzugten Wohngegend in Frankfurt am Main. Hier wohnen Akademiker, Fernsehmoderatoren oder Promi-Tierärzte; dahinter endet die Stadt und geht in Wald und Feld über, ein Bächlein fließt, Rassehunde werden spazieren geführt. Christopher, Luisas Mann, schläft noch; ein paar Stunden später soll die achtjährige Nichte Anne für zwei Wochen zu Besuch kommen. Ein Hort der kleinen, nichtigen Alltagsprobleme, so könnte man meinen, und Silke Scheuermann gibt sich zunächst alle Mühe zu suggerieren, dass der Roman auch genau davon bestimmt sein wird: Der Hund wälzt sich im Dung und stinkt; Luisas Verhältnis zur Schwester ist problematisch; die Nichte verhält sich ganz anders als erwartet, nämlich altklug und distanziert.

Doch schon hier, in die Anfangsszenen, schleicht sich eine Form von Vergiftung ein, die den gesamten Roman prägen wird; ein beunruhigender Blick auf die Figuren, der vor allem von der scharfen Diskrepanz zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung bestimmt wird. Die Perspektive ist das Entscheidende. Der Titel des Romans erinnert nicht zufällig an den Film "Das Leben der anderen" - auch in Silke Scheuermanns Roman schleichen die Figuren sich in fremde Leben ein, spionieren sie aus, verwandeln sie sich an, sei es aus Verzweiflung, aus Bösartigkeit und in manipulativer Absicht, sei es aus Gier.

Nichts ist so, wie es scheint

Von Kapitel zu Kapitel wechseln Erzählinstanz und Blickwinkel, springt der Text zwischen der ersten und dritten Person. Nicht jede der Figuren ist gelungen, doch insgesamt entsteht auf diese Weise ein Wimmelbild, in dem alles miteinander zusammenhängt, miteinander verbunden ist in Zuneigung, Abstoßung oder gar Hass.

Nichts ist so, wie es auf den ersten Blick scheint. Vorstellungswelten und Realität klaffen so weit auseinander, dass man nur von Selbstbetrug im großen Stil sprechen kann. Hinweise dafür sind durch den gesamten Roman gelegt; man blickt von außen auf die schönen Fassaden des Kuhlmühlgrabens (so heißt die Straße, in der sich alles abspielt), um dann von innen heraus die Zersetzung vorgeführt zu bekommen. Luisa und Christopher beispielsweise, das Akademiker-Vorzeigepaar, verachten sich zutiefst gegenseitig. Sie fühlt sich vernachlässigt, er fühlt sich unterdrückt.

Die minutiöse Beschreibung einer gemeinsamen Venedigreise, in deren Verlauf sich die angestauten, bislang unausgesprochenen Abneigungen Bahn brechen, ist einer der beklemmenden Höhepunkte des Romans. So treffend muss man die zerstörte Binnenstruktur einer Beziehung erst einmal schildern können. Überhaupt beherrscht Silke Scheuermann, die sowohl Lyrik als auch Prosa schreibt, diverse Stil- und Tonlagen. Die Darstellung der Milieus, die sie aufeinanderprallen lässt, bewegt sich oft gefährlich nahe am Klischee, doch darf man dahinter eine gewisse Absicht vermuten, die in Verbindung mit der Lebensführung der Figuren selbst steht.

"Die Häuser der anderen" ist ein Echoraum verschiedener Medien. So wie Luisa nach einer Existenz in Monet-Bildern strebt, wird die Geschichte der Putzfrau Gaby, die ihr Weltbild aus Nachmittags-Gerichtssendungen und Fernsehserien bezieht, als Trash-Geschichte erzählt. Gaby schleicht sich als Putzfrau in das Haus des Tierarztes Taunstätt und seiner Frau ein, sie will ihre Tochter (die selbstverständlich Britney heißen muss) mit dem Adoptivsohn des Paares verkuppeln. Eher unfreiwillig wird sie zur Vertrauten ihrer Arbeitgeberin, während sie ihr eigenes Familienumfeld vernachlässigt.

Ein Roman, der keinen gesteigerten Wert auf Plausibilität legt

Der Adoptivsohn wiederum wird Jahre später im Mittelpunkt eines grauenhaften Verbrechens stehen, doch das wird an anderer Stelle, von einer anderen Erzählstimme wie nebenbei berichtet. Diese enge Verzahnung des Geschehens ist geschickt arrangiert; zugleich gestattet Silke Scheuermann sich wilde Zeitsprünge: Der schmale Roman umfasst einen Zeitraum von zwölf Jahren; das letzte Kapitel schließt den Kreis zu der mittlerweile 20 Jahre alten Nichte Luisas, die - wieder ein Wunschbild, das zwanghaft umgesetzt werden musste - in New York lebt und studiert.

"Die Häuser der anderen" ist ein Roman, der keinen gesteigerten Wert auf Plausibilität legt; es gibt kleine logische Brüche, auch sprachliche Nachlässigkeiten. So ist es kein rundum gelungenes, aber ein höchst bemerkenswertes Buch. Denn schwerer als die Mängel wiegt die Beobachtung, dass Silke Scheuermann etwas zu fassen bekommen und eingefangen hat; eine gesellschaftliche Wirklichkeit, ein gegenwärtiges Bewusstsein, in dem die Mittdreißiger- und Mittvierziger-Generation lebt. Soll man sie "Generation Manufactum" nennen?

Was hier vorgeführt wird, ist eine Zelebrierung bürgerlichen Daseins, dessen Gelingen davon abhängt, dass die Dinge so sind, wie sie zu sein haben. Die Arbeit an der Selbstinszenierung, die Projekthaftigkeit der eigenen Existenz, in der es immer etwas zu optimieren gibt, garantiert kurzzeitig eine gewisse Krisenfestigkeit. Der Absturz gehört unweigerlich zu diesem Konzept dazu. Wenn die Spannung, die das Missverhältnis von Bildern, Worten und Taten erzeugt, zu groß wird, kommt es zu Implosionen. Die sind in "Die Häuser der anderen" spürbar.

© SZ vom 10.12.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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