Roman: "Der Reaktor":Im Herzen des Reaktors

Moderne Söldner, die sich mit sarkastischem Humor als Neutronenfutter beschreiben: Elisabeth Filhols Roman über die Wanderarbeiter der Atomindustrie beleuchtet das gefährliche Leben am äußersten Rand der Arbeitswelt.

Alex Rühle

Frankreich ist das Land mit der innigsten Beziehung zu seinen Kernkraftwerken. 59 Reaktoren verteilen sich über das Land, aufgereiht an den Flüssen, aus denen sie ihr Wasser beziehen. An keinem Ort im Land ist man weiter als 250 Kilometer vom nächsten Kraftwerk entfernt. Und doch sind sie so gut wie unsichtbar, im Diskurs, im Bewusstsein, ja für die, die in ihrer Nähe leben, sinken sie mit der Zeit in die Landschaft zurück und werden mit ihrer lautlosen Dampffahne zu einem Teil der Natur, deren Elementarteilchen sie in ihrem Inneren in Energie verwandeln. Wie das genau passiert, weiß keiner so genau, erst recht nicht, was es mit Kohäsionskräften und Graphitgastechnik, dem Tertiärkreislauf oder der DSEA auf sich hat.

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Der Roman Der Reaktor handelt von diesem Blau: Blick in das Kühlbecken des Atomreaktors Flamanville in Westfrankreich.

(Foto: AFP)

Die DSEA ist die direkte Strahlenexposition, sie darf 20 Millisievert pro Jahr nicht übersteigen. Wenn sie es doch tut, "ist man bis zur nächsten Saison aus dem Spiel". Der da so pragmatisch spricht, Yann, der Erzähler dieses Romans, ist einer der Arbeitsnomaden, die den Sommer über als Reinigungsarbeiter kreuz und quer durch Frankreich fahren und Station machen in Orten wie Blayais, Nogent-sur-Seine, Chinon, Civaux (Vienne), ohne dass auch nur einer dieser Orte je greifbar würde.

Wie auch, diese Arbeiter sind moderne Söldner, die sich mit sarkastischem Humor als Neutronenfutter und Remfleisch beschreiben, für drei Wochen am Rande einer Ortschaft einen Wohnwagen oder ein Mobile Home miteinander teilen, tagsüber den Reaktor säubern, nach der Schicht aufeinanderhocken, einander in tiefer Verbundenheit anschweigen und nach getaner Arbeit weiterziehen.

Die horrende Verlorenheit dieser postmodernen Nomaden, das neonnüchterne Licht, mit dem Filhol ihr Leben am äußersten Rand unserer Arbeitswelt ausleuchtet, erinnert an Houellebecqs "Ausweitung der Kampfzone", - inklusive Selbstmord eines Protagonisten. Ihr Umherziehen hat nichts von Freiheit, im Gegenteil, es ist ein streng durchorganisiertes, ganz auf Rentabilität ausgerichtetes Nomadentum, schließlich werden auch in der Atomwirtschaft längst die Kosten auf die Subunternehmer abgewälzt, die genau wissen, dass für jeden, der geht, zehn andere in der Schlange stehen.

Ähnlich streng durchorganisiert ist dieser Roman. Kein Wort ist darin zu viel, auf gerade mal 128 Seiten erzählt Elisabeth Filhol in ihrem Erstlingsroman, der im vergangenen Jahr in Frankreich für eine Sensation sorgte, die Geschichte ihrer Atomnomaden, ferner Nachkommen der Wanderarbeiter aus John Steinbecks "Früchte des Zorns", nur dass hier niemand zornig wird, im Gegenteil, auf den ersten Blick wirkt es, als habe die Autorin im sicheren Wissen um die unheimliche Strahlkraft ihres Stoffes die Rhetorik runtergekühlt auf den Tonfall eines Arbeitsberichtes oder eines Noir-Krimis.

Obwohl gleich zu Anfang gesagt wird, dass sich drei Arbeiter in den vergangenen sechs Monaten umgebracht haben, obwohl man ganz am Ende erfährt, dass einer der drei ein Freund des Erzählers war, der Ton dieses Buches bleibt immer nüchtern, fast gläsern.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, was das gefühlte Problem der Arbeiter ist.

Stress und Strahlung

Und Yann, der Erzähler ohne Nachnamen, ist nicht empört über die Arbeitsbedingungen, sondern ärgert sich höchstens darüber, dass er dem wahnwitzigen Stress bei den gefährlichen Reinigungsaktionen nicht immer standhält und dass er nur so verdammt wenig Strahlung abbekommen darf, "das geringe Kapital an Millisievert sieht man dahinschmelzen wie Schnee in der Sonne".

Yann hat bei einem zweiminütigen Arbeitsgang die Sicherheitsscheibe einer Mutter aufgehoben, die sich, aber das wird er erst im Nachhinein, bei der minuziösen Rekonstruktion dieses Vorgangs, verstehen, "im Tank gelöst hat und nach einem längeren Aufenthalt im Herzen des Reaktors während der hydraulischen Prüfung zum Wasserkasten gewandert ist. Stark strahlend, durch die Aktivierung." Diese eine lockere Schraube vertrahlt ihn so stark, dass er für den Rest des Jahres aufhören muss.

Im Herzen des Reaktors: Die 46-jährige Filhol, die als Finanzanalystin und Wirtschaftsprüferin bei großen Unternehmen arbeitet, lässt am Grunde ihres so betont sachlichen Textes immer wieder solche stark strahlenden Bilder entlangwandern und macht den Reaktor so mehr und mehr zum unheimlichen Lebewesen, das sich von den Arbeitern zu ernähren scheint.

Dieser Trick und ihre wissenschaftlich-soziologische Genauigkeit sind wahrscheinlich eine sehr viel bessere Taktik, ein Publikum für die lautlose, unsichtbare Gefahr der Atomindustrie zu sensibilisieren, als all die pamphletistischen Texte, die man hierzulande nach Fukushima lesen konnte.

Zugleich findet Filhol noch in dieser Todeszone Bilder von großer Schönheit, etwa wenn sie das fast übernatürliche Blau in den Abklingbecken beschreibt, das aus sich selbst heraus zu strahlen scheint, jedoch durch Partikel entsteht, "die stark energiegeladen sind, die Wände des Behälters durchdringen, und mit dem Wasser des Beckens in einer Geschwindigkeit reagieren, die höher ist als die Geschwindigkeit des Lichts im Wasser - aber niedriger als die Geschwindigkeit des Lichts im leeren Raum. Auf dem Weg dieser Partikel wird ein Lichteffekt erzeugt, ähnlich dem Toneffekt, der das Durchbrechen der Schallmauer begleitet. Ihr Eindringen löst eine Schockwelle aus. In der Luft ist das der charakteristische Knall der Überschallflugzeuge. Im Wasser ist es ein Lichtblitz im Farbspektrum von Blau und Ultraviolett."

Es ist mit diesem Buch wie mit den Abklingbecken; die Sprache umfließt ihr stummes Sujet kühl und klar, aber gerade aus dieser kühlen Klarheit bezieht der Text sein unheimliches Leuchten.

"La Centrale" heißt das Werk im Original, was eine weitaus größere Strahlkraft hat als "Der Reaktor", es zielt ins Zentrum, ins Zentrum der Macht und der Natur, ins Zentrum der heutigen Arbeitswelt, in der das einzige Kapital der Wanderarbeiter ihre eigene tödliche Dosis ist.

ELISABETH FILHOL: Der Reaktor. Roman. Aus dem Französischen von Cornelia Wend. Edition Nautilus, Hamburg 2011. 128 Seiten, 16 Euro.

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