Roman: A und X:Deine Füße wissen es

John Bergers elegischer Briefroman "A und X" liest sich so untertourig und verhalten, als hätte der mittlerweile 83-jährige Autor sich beim Valium in der Schublade bedient.

Tobias Lehmkuhl

John Berger gilt schon lange als ein Vertreter der engagierten Literatur: Ob er in seinem Roman King einen Hund unter Obdachlosen leben lässt oder als Essayist (und Zeichner) Subcomandante Marcos porträtiert: Dem heute 83-jährigen Autor ist die Sache der Armen und Entrechteten seit jeher ein Anliegen. In den fünfziger Jahren engagierte er sich in der Friedensbewegung, und als er 1972 für G den Booker-Prize erhielt, spendete er die Hälfte des Preisgelds der Black-Panther-Bewegung.

Katja Riemann in "Die Apothekerin"

Weil die Briefe der Apothekerin A'ida an ihren Xavier zensiert werden, kann sie ihm nur Alltägliches erzählen: Wer zu ihr ins Geschäft kommt, wem sie auf der Straße begegnet. Das Bild zeitg Katja Riemann in dem Film "Die Apothekerin".

(Foto: ag.dpa)

Stilistisch aber könnte es zur Prosa Bergers keinen größeren Gegensatz geben als die lauten und flachen Parolen der Schwarzen Panther oder irgendwelcher kommunistischer Befreiungsbewegungen. Seine Bücher scheinen vielmehr wie mit leiser Stimme geschrieben zu sein, verhalten und immer leicht untertourig. Besonders auffällig wird dies im neuen Roman des in Frankreich lebenden Engländers.

Terror steht auf der Tagesordnung

In A und X, dieser Liebesgeschichte in Briefen, wie der deutsche Untertitel etwas irreführend lautet, holt Berger das Phrasenhaft-Unsinnliche politischer Traktatliteratur mit in den Text hinein und kontrastiert die eigene Stimmführung dadurch besonders deutlich. Zum Großteil besteht der Roman aus Briefen, die eine gewisse A'ida an ihren im Gefängnis sitzenden Geliebten Xavier schreibt. Nur auf die Rückseite mancher der Briefe hat der Empfänger, wie dem Leser in einer kurzen mit "J. B." unterschriebenen Herausgeberfiktion mitgeteilt wird, kurze Notizen gemacht. Meist sind es Zitate, von Evo Morales etwa, Franz Fanon oder besagtem Subcomandante Marcos.

Der Roman ist in einem unbestimmten Land angesiedelt, das sowohl nordafrikanische als auch südamerikanische Züge trägt. Es befindet sich, wie man aus A'idas Briefen erfährt, in einem latenten Bürgerkrieg, einem Zustand, in dem Polizeiwillkür und Terror gegen die eigene Bevölkerung an der Tagesordnung sind.

Anders aber als in den sich meist sachlich gebenden Kurznotaten Xaviers ("1 Milliarde Menschen haben keinen Zugang zu Trinkwasser. In manchen Gebieten Brasiliens zahlt man auf der Straße mehr für 1 l Trinkwasser als für 1 l Milch, in Venezuela mehr als für 1 l Benzin"), spiegelt sich die Auflehnung gegen das Regime in den Briefen A'idas nicht direkt wieder. Auch angesichts dessen, dass A'ida damit rechnen muss, ihre Briefe könnten zensiert oder konfisziert werden, schlägt sie einen anderen Ton an und spricht mit einigen Ausnahmen über ihren Alltag statt über Repressalien.

"Mein Erdlöwe"

A'ida arbeitet in einer Apotheke, und sie erzählt Xavier, wer zu ihr ins Geschäft kommt, wem sie auf der Straße begegnet, sie ruft ihm aber auch gemeinsame Erinnerungen ins Gedächtnis und vor allem beschwört sie seine Gegenwart, nennt ihn "Mein Erdlöwe", und manchmal auch wird ihr philosophisch zumute: "Das Flüchtige ist nicht das Gegenteil des Ewigen. Das Gegenteil vom Ewigen ist das Vergessene. Sobald es um die letzten Dinge geht, tun viele so, als seien das Vergessene und das Ewige ein und dasselbe. Aber sie irren sich."

A'idas Ton ist immer ruhig und beherrscht, auch wenn sie davon berichtet, dass sie über irgendetwas in Tränen ausgebrochen ist. Sicher war es auch das Leise, mitunter Streichelnd-Beschwörerische dieses Tons, das Harold Pinter dazu angeregt hat, "A und X" "eines der zärtlichsten Bücher" zu nennen. Nur schlägt diese Zartheit leider allzu häufig in Betulichkeit um. Etwa wenn A'ida einen Brief mit den Sätzen "Sag mir, wie es Deinem Fuß geht. Ich muss es wissen" beschließt, oder wenn sie schreibt: "In dem Augenblick, als sie Dir zweifach lebenslänglich gaben, hörte ich auf, an ihre Zeit zu glauben."

Gut gegen Böse

A'idas Stimme klingt in jedem Brief gleich: Seltsam gedämpft, und als würde die Apothekerin sich selbst in einer der Schubladen bei den Betäubungsmitteln bedienen. Ihre Prosa liest sich, als wäre sie in einem halbnarkotisierten Zustand verfasst. Ausbrüche von Wut oder wilder Leidenschaft sucht man hier vergebens.

Doch die heruntergedimmte Stimmung und die Phrasenhaftigkeit der Notizen Xaviers sind nicht das einzige Problem des Buches. Seine Grundidee, zwei unterschiedliche Stimmen miteinander zu kontrastieren, geht leider ebenfalls nicht auf: Weder befruchten sie sich gegenseitig, noch entsteht zwischen ihnen eine Spannung. Denn so unterschiedlich sie klingen, nehmen sie doch dieselbe Position ein. Sie sind die "Guten", und die anderen, das sind die "Bösen". Damit macht es sich der Autor leider zu einfach. Die "Bösen", das sind bei ihm, diffus und gesichtslos, die Kapitalisten ("Nur 3% der Finanzspekulation und Wechselgeschäfte betreffen die eigentliche Produktion"). Die "Guten" dagegen, das sind seine eigenen Leidensfiguren. Diese Schwarz-Weiß-Malerei allerdings wird für den Leser selbst bald zur Pein.

JOHN BERGER: A und X. Eine Liebesgeschichte in Briefen. Übersetzt von Hans Jürgen Balmes. Hanser Verlag, München 2010. 209 Seiten, 18,95 Euro.

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