Roger Willemsen: "Knacks":Lutschen am Lebensleid-Lolly

Rührung über das eigene harte Los: Roger Willemsen widmet sein neues Buch einer Gesellschaft, die das Scheitern genussvoll zelebriert.

Thomas Steinfeld

Dieses Buch ist, so will es scheinen, das Buch zur Saison. Nicht, weil es besonders wahr wäre oder besonders schön, besonders gut oder besonders klug. Sondern weil es wie kein anderes eine weit verbreitete Stimmung erfasst: "Das Bewusstsein des gegenwärtigen Menschen entsteht als ein Übertreten vom 'ich denke' zu 'es denkt', 'ich handele' zu 'es handelt'," heißt es in diesem Buch, "irgendwann bezieht sich das Drama nicht mehr auf die Prozesse der Steigerung oder Expansion und ihre Rückschläge, sondern auf die Individualität der Enttäuschung."

Roger Willemsen: "Knacks": Der Mann mit dem Knacks: Roger Willemsens neuestes Werk erzählt vom Genuss am Scheitern im Leben.

Der Mann mit dem Knacks: Roger Willemsens neuestes Werk erzählt vom Genuss am Scheitern im Leben.

(Foto: Foto: dpa)

Anders gesagt: Dieses Buch handelt davon, dass einer den Willen aufgibt, den Lauf der Dinge zu verstehen, um vom Ändern ganz zu schweigen, und statt dessen in der Betrachtung der Schäden und Verluste versinkt, die ihm eben dieser Lauf der Dinge zufügte und immer noch zufügt.

Resigniert bis in die Tiefe seines Herzens, vom Anblick des eigenen Scheiterns unendlich gerührt, steht er vor der Katastrophe, als die ihm sein Leben nun erscheint, und wirbt, ein letztes Mal, um was? Man wüsste es nicht zu sagen, denn dieses Scheitern ist im Innersten privat - vielleicht um Bewunderung dafür, seine Niederlage, die Niederlagen offenbar aller Menschen um ihn herum in so selbstgefällig süße Worte gekleidet zu haben.

Das jüngste, am heutigen Montag erscheinende Werk des Moderators, Filmemachers und Essayisten Roger Willemsen ist dem "Knacks" gewidmet (S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008. 296 Seiten, 18,90 Euro), einer neuen Art ontischer Kategorie, die der Autor, stets sehr ungenau, so definiert: "das dauernde Scheitern, die Wiederkehr des Misserfolgs, das eigentliche Kontinuum, das selbst den Alltag im Kleinen unablässig begleitet".

Der "Knacks", so Willemsen, trete in den unterschiedlichsten Formen auf, als Erfahrung einer Krankheit oder eines Unfalls, als berufliche Niederlage oder Scheitern einer Liebe, als Verrat oder Vernachlässigung und vor allem im Bewusstsein des Alterns, als hemmungslos sentimentale Krankheit zum Tode.

Fatale Kategorie

Das Wort vom "Knacks" ist dafür gut gewählt, denn es steckt das Heimliche darin, das zunächst nicht Sichtbare, das Verborgene, das dennoch die Tauglichkeit eines Gegenstands oder eines Menschen von Grund auf in Frage stellt - und dazu noch etwa absurd Lustiges im Klang des Wortes.

Das Trauma, lehrt Roger Willemsen, sei wie eine Narbe - den Ursprung habe man vergessen, sie mache sich aber in verwandten Situationen als Warnung und Hindernis gelten. Der "Knacks" hingegen sei wie eine Falte: "an keinem Tag entstanden, in keiner Situation begründet" und doch "eine Signatur der Zeit".

Was auch heißt: Das Trauma will hinaus, will sich zeigen und geteilt werden, der "Knacks" aber ist eine einsame Veranstaltung, eine Gewissheit, die sich dem anderen nicht erschließen kann. Was taugt ein Krug noch, wenn er einen "Knacks", was ein Mensch, der im "Knacks" seinen "Kurssturz erlebt" hat? Nicht mehr viel, denn was immer jetzt noch mit ihm geschieht (oder was immer er noch selbst tut), findet im Wissen darum statt, dass er keinen Druck mehr erträgt, nicht mehr belastbar ist, im Grunde schon dem Aussortierten zugehört.

Der "Knacks" ist eine fatale Kategorie: Denn wer an ihn glaubt, will grundsätzlich und umfassend von allen Gründen des Scheiterns absehen. Es interessiert ihn nicht, ob einer nicht mehr tun kann, was er tun will, weil sein Arbeitsplatz nach Rumänien verlegt wurde oder weil er in Depressionen fiel. Noch weniger interessieren ihn die Gründe, warum einer seinen Job verliert, warum eine Liebe scheitert, warum einer so traurig wird, dass er nicht mehr zu handeln vermag, warum die Städte so hässlich und die Landschaften so verdorben sind.

Der "Knacks" ist eine rücksichtslose, ja totalitäre und zynische Veranstaltung. Der Tod des Vaters, die schlechte Berufswahl, das private Unglück - alles, worauf es bei ihm ankommt, zielt auf dasselbe: auf die rigorose Privatisierung des Leidens, auf den Genuss des Scheiterns, auf das Herumlutschen an der Niederlage als dem letzten Reservat persönlicher Sinngebung.

Lesen Sie auf Seite zwei, warum selbst Kinder schon einen "Knacks" haben.

Lutschen am Lebensleid-Lolly

"In jedem Leben", deklamiert der Autor, "kommt der Augenblick, in dem die Zeit einen anderen Weg geht als man selbst. Es ist der Moment, in dem man aufhört, Zeitgenosse zu sein. Man lässt die Mitwelt ziehen.

"Wohl dem, der sich das leisten kann, möchte man da ausrufen - noch bevor man beginnt, darüber nachzudenken, was man sich unter "dem Leben", "dem Augenblick", "der Zeit", unter all diesen besitzergreifenden, ebenso diffusen wie nach Bedeutung heischenden Abstrakta vorstellen soll.

Was ist aus der Verantwortung geworden, möchte man dagegen fragen, was aus dem sozialen Bewusstsein, was gar aus der Politik? Nichts davon ist mehr da. Der "Knacks" ist eine Programmschrift für die rigorose Abwendung von allem Allgemeinen: "Der vom Knacks Ereilte hat auch vom 'Willen zur Wahrheit' eine zu geringe Meinung, um in der Desillusion ein Medium der Selbststeigerung zu suchen, er bleibt transzendenzlos gebrochen."

Weshalb der "Knacks" die Seelenkunde dieser Tage ist: Eine Philosophie, die dem Denken abschwört, weil sie eine Philosophie der Angst ist, wobei die Angst ja eigentlich keine Philosophie kennt. Die Angst will nicht wissen, sondern fliehen, nicht überlegen, sondern sich ducken - so wie die Menschen, die doch alle gewusst hatten, dass die "Blase" des Finanzmarktes eines Tages "platzen" musste, und die jetzt stündlich auf die Börsenkurse schauen, in der Hoffnung, dass wenigstens das eigene Leben von den Folgen verschont bleibe, während sie doch schon längst genauso sicher wissen, dass auch sie, dass alle getroffen sein werden.

"Es gibt eine Zeit", schreibt Roger Willemsen, "da man die eigenen Verluste auf die Außenwelt projiziert und politisch wird. Es kommt eine andere Zeit, in der man souverän wird und weiß, dass Politik, auf die man Einfluss hat, keine ist." Die gegenwärtig so häufig zu hörende Rede von der "Alternativlosigkeit" anstehender Maßnahmen gehört zu den beliebtesten Floskeln einer Politik, die den absoluten Notstand kultiviert. Roger Willemsen hat dazu die passende Philosophie von der ohnmächtigen Isolation des einzelnen geschrieben.

Idealer Untergang

Der "Knacks" ist ein Irrtum, ein kapitaler philosophischer Fehler. Denn der kaputte Krug setzt den heilen, der gebrochene den ungebrochen wollenden Menschen, das beschädigte das unbeschädigte Ich voraus. Wo aber hätte es dies je gegeben? Nicht einmal im Mutterleib!

"Du warst einmal", behauptet Roger Willemsen, "als sich die Köpfe über das Baby, das Kleinkind, den Heranwachsenden beugten und immer das Gleiche sagten: All diese unbegrenzten Möglichkeiten, vielversprechende Optionen, besten Chancen, berechtigten Hoffnungen." Es mag ja sein, dass so geredet wird - auch wenn es wenig wahrscheinlich ist.

Aber wahr war dieses Gerede nie. Stets war es nur der Idealismus einer Selbstwerdung, der Wahn des modernen Menschen, er sei eigentlich ein anderes, besseres Wesen als das, was er ist, die Illusion einer Identität, die es jenseits aller Voraussetzungen und Umstände zu erreichen gäbe.

Denn genauso, wie der "Knacks" nur Niederlagen kennt, ohne sich um deren Gründe kümmern zu wollen, will das "Du warst einmal" nur die Hoffnung gelten lassen, ohne sich auch nur einen Augenblick um deren Fundamente zu bemühen.

Anders gesagt: Der "Knacks" ist nur die Umkehrung eines ordinären Tagtraums: So, wie man sich die Welt vorher als Bühne für das ideale Ich wünschte, soll sie jetzt als Szene für den idealen Untergang dienen. Dabei ist der eine Traum so ignorant und hoffärtig wie der andere.

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