Rock im Revier und Rockavaria:Familienfreundliche Festival-Idylle

  • Mit den Festivals Rock im Revier in Gelsenkirchen und Rockavaria in München startet die börsennotierte Deutsche Entertainment AG (Deag) in den Festivalmarkt - ein Unterfangen mit Risiko.
  • Nach Krach mit den Betreibern des Nürburgrings und einem kurzfristigen Umzug nach Schalke stellte sich die Frage, wie die neuen Festivals ankommen.
  • Die Band standen am Ende teils ziemlich einsam auf der Bühne - eine sehr spezielle Festival-Atmosphäre.

Von Jannis Brühl und Sebastian Krass

Helga ist nach Gelsenkirchen umgezogen. "Helga!" schreien die sechs Betrunkenen und stürmen los. "Helga!" antworten die beiden Männer in den Metal-Kutten, jenen Jacken, die vollgenäht sind mit den unleserlichen Logos vermutlich unhörbarer Bands. Dann wird mit Plastikbechern vangestoßen. "Helga" existiert nicht, der Ruf ihres Namens ist ein alter Witz auf Rockkonzerten - und untrügliches Zeichen, dass die Festivalsaison begonnen hat. Helgas Freunde stehen vor der Open-Air-Bühne neben der Gelsenkirchener Arena, im Hintergrund singt der Sänger der Band Eisbrecher im Kapitänsoutfit zu harten Gitarren. Im und um das Stadion, in dem sonst der FC Schalke 04 spielt, findet zum ersten Mal Rock im Revier statt.

Mehr als 60 Bands an den drei Tagen treten auf, von den geschminkten Herren von Kiss bis zu Babymetal: drei jungen Japanerinnen im Schulmädchen-Outfit, die den überdrehten Pop ihrer Heimat mit Heavy Metal mischen und das offenbar ernst meinen.

"Auf einem Festival erwarte ich 70 000 Besoffene, die campen"

Dass es dieses Festival hier gibt, war vor drei Monaten noch nicht absehbar. Da sollte es noch auf dem Nürburgring stattfinden, unter dem Namen Grüne Hölle. Mit dieser Veranstaltung, dem Rockavaria in München und Rock in Vienna plante die börsennotierte Deutsche Entertainment AG (Deag) einen "massiven Eintritt in den Festivalmarkt" und damit einen "Wachstumsschub", so hieß es in einer Erklärung vom vergangenen November. "Einen profitablen Zusatzumsatz von 30 Millionen Euro im Jahr 2015" versprach sich der Konzern aus Berlin.

Rockfestival ´Rock im Revier" - Metallica

Geht doch: James Hetfield und Kirk Hammett von Metallica schafften es, Fans bei Rock im Revier auf Schalke (und auch in München) mitzureißen.

(Foto: Friso Gentsch/dpa)

Doch das Geschäft mit Festivals für Zehntausende Menschen ist risikoreich. Große Bands bekommen horrende Garantiegagen, teils in Millionenhöhe. Für gewöhnlich beginnen sich solche Festivals zu rechnen, wenn der größte Teil der Tickets verkauft ist, zum Normalpreis von 150 bis 200 Euro für drei Tage.

Die Expansion der Deag war auch eine Kampfansage an einen der Größten auf dem Markt der Konzertveranstalter: die Frankfurter Agentur von Marek Lieberberg, die jahrzehntelang Rock im Park in Nürnberg und Rock am Ring auf dem Nürburgring ausrichtete. Mit den Ring-Betreibern hatte Lieberberg sich im vergangenen Jahr nicht auf einen neuen Vertrag geeinigt. Die Deag mit ihrem Vorstandsvorsitzenden Peter Schwenkow sprang ein und versprach ein aufregendes Festival.

Statt Grüner Hölle nun Rock im Revier

Doch im März überwarfen sich Deag und die Ring-Betreiber. Die halten der Deag vor, die Ziele beim Ticketverkauf "eklatant verfehlt" zu haben. Die Deag wiederum sagt, der Ring habe sich nicht an den Vorauszahlungen für Gagen beteiligt. Aber auch Schwenkow räumte ein, er sei mit dem Vorverkauf unzufrieden gewesen. Schließlich kündigte die Deag, verlegte das Festival nach Schalke. Statt Grüner Hölle heißt es nun Rock im Revier. Lieberberg wiederum zog mit Rock am Ring nach Mendig um, gut 30 Kilometer vom Nürburgring entfernt, Rock im Park bleibt in Nürnberg. Angesichts der Konkurrenz durch die Lieberberg-Festivals war eine Frage in der Branche besonders wichtig: Bekommt Schwenkow die Arenen voll?

Start des neuen Festivals ´Rockavaria"

Parallel zum Schalker Festival fand das Deag-Festival in München statt.

(Foto: Sven Hoppe/dpa)

In der Emscher-Lippe-Halle neben dem Schalker Stadion gibt Dango alles. Der langhaarige Gitarrist der schwedischen Band Truckfighters ist halbnackt, schwitzt, streckt die Zunge raus, spielt hinter dem eigenen Kopf Gitarre, springt und tritt dabei in alle Richtungen. Doch ins Halbdunkel vor ihm haben sich nur wenige hundert Menschen verirrt. Darunter etwa zwei Dutzend Fans, die hüpfen und mit den Fingern geformte Teufelshörner Richtung Bühne strecken. So wirkt der Auftritt der Gruppe wie der einer Schülerband in einer viel zu großen Turnhalle. Und das, obwohl sogar Leute von der großen Bühne hierherkommen. Ein Bärtiger mit Ohrenstöpseln schaut vom Hallenrand aus zu und sagt: "Naja, im Stadion ist ja nix los."

Die Atmosphäre: eher familienfreundlich als wild

48 000 Menschen dürfen auf dem Gelände sein. Doch so viele wurden es bei weitem nicht. Ein Vertreter der Deag meldet, mehr als 30 000 Besucher seien am Samstag da gewesen, an den beiden anderen Tagen jeweils mehr als 20 000. Zumindest die Zahl für den Samstag wirkt sehr optimistisch. Die Atmosphäre ist eher familienfreundlich als wild.

Neben dem Stadion leiden die Händler, die Ramones-T-Shirts und Totenkopfflaggen verkaufen wollen, an Vereinsamung. Die Idylle irritiert manche Fans, auch die zwei Kölnerinnen in den schwarzen Lederjacken, die hinter dem Stadion den Eingang suchen. Eine von ihnen sagt: "Das ist doch kein Festival. Auf einem Festival erwarte ich 70 000 Besoffene, die campen." Camping gibt es zwar, aber davon merken Besucher am Stadion nichts. Der Zeltplatz auf dem Gelände einer Trabrennbahn ist nur mit Shuttle-Bussen zu erreichen - oder einstündigem Fußmarsch.

Erst am Abend ziehen die letzten Bands Limp Bizkit und Muse mehr Menschen an. Richtig voll, erzählen Fans, sei es aber nur am Vortag bei Metallica gewesen. Parallel zum Schalker Festival fand das Deag-Festival in München statt. Es gab Rabattaktionen, eine davon: 25 Prozent Nachlass für ADAC-Mitglieder. Die Veranstalter rechneten mit 45 000 Besuchern pro Tag im Olympiapark. Allerdings hat das Gelände Platz für 68 000 Menschen. Am nächsten Wochenende steht das dritte Deag-Festival in Wien an - und die Festivals des Konkurrenten Lieberberg. Rock am Ring meldet mit 90 000 verkauften Tickets: ausverkauft. Auch für Rock im Park sind alle 75 000 Drei-Tages-Karten weggegangen.

Auf Schalke wird es Nacht. Matthew Bellamy, Sänger der Bombast-Rocker von Muse, kommandiert die Fans. Der Innenraum ist immerhin halb voll. Und als die Kanonen vor der Bühne Rauch, Konfetti und Luftschlangen schießen, in denen sich betrunken tanzende Paare verfangen, rockt das Revier dann doch noch.

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