Robert Gernhardt "Brunnenhefte":Unter lauter Kugelschreibern eine Welt

Das Marbacher Literaturmuseum der Moderne gibt einen Einblick in Robert Gernhardts "Brunnenhefte", die ein Kunstwerk ganz eigenen Rechts sind.

Thomas Steinfeld

Es war ein hübscher Einfall der Marbacher Kuratorin, über die seit dem vergangenen Wochenende ausgestellten Arbeits- und Werkhefte Robert Gernhardts einen Schwarm von gelben Kugelschreibern zu hängen. Sie baumeln an durchsichtigen Fäden, dünne, billige Gerätschaften des täglichen Gebrauchs ohne hohe Lebenserwartung. Aber es sind Hunderte, und in der Menge wirken sie massiv.

Robert Gernhardt Brunnen-Hefte
(Foto: Foto: marbachermagazin120)

In diesem Ineinander des Unscheinbaren und des Monumentalen gleichen sie den eigentlichen Exponaten dieser Ausstellung: Über fast 30 Jahre führte Robert Gernhardt ein künstlerisches Tage- und Werkbuch, das er unlinierten Schulheften der Marke "Brunnen" anvertraute: Knapp 700 Stück gibt es von ihnen, lückenlos aneinander anschließend, und so banal jedes einzelne von ihnen von außen aussieht, so monumental ist die Gesamtheit.

Von der Existenz dieser Hefte wusste nur, wer näheren Umgang mit Robert Gernhardt hatte. Sie gelangten im vergangenen Jahr, kurz nach dem Tod des Dichters, Zeichners und Malers, zusammen mit dem literarischen Nachlass nach Marbach. Im neuen Literaturmuseum der Moderne sind nun 170 dieser Hefte ausgestellt - nein, ausgehängt, denn sie schweben zwischen Glasplatten in den Räumen, sodass der Besucher jeweils zwei aufgeschlagene Innenseiten und den Umschlag sehen kann.

Ungeheures, penibel geführtes Gedankenreservat

Luftig und frei wirkt diese Installation, aber wer nur in die ersten Seiten hineingeschaut hat, versteht schnell: Die "Brunnen-Hefte" sind ein eigenes Werk, das neben dem literarischen und dem zeichnerischen Œuvre steht, das von beidem etwas hat, also Zeichnungen und poetische Texte enthält und auch ein Tagebuch ist, aber doch auch etwas Eigenständiges: Werkstatt und Rückzugsort zugleich.

Man findet Entwürfe darin, zu veröffentlichten und unveröffentlichten Gedichten und Erzählungen, Eindrücke von Reisen und persönlichen Begegnungen, Protokolle und viele Notate aus dem täglichen Leben, die Eingang hätten finden können in das publizierte Werk.

Aber gleichzeitig sind sie noch etwas anderes: ein ungeheures, penibel geführtes Gedankenreservat, in das sich der Künstler zurückzieht vor den Ansprüchen der Auftragsschreiberei - für Zeitschriften und Zeitungen, für Vorträge, Filme und öffentliche Auftritte. Aber nicht minder vor der Kultur und ihrem Betrieb selber. Hier finden sich Reflexionen über Poesie und Malerei, über Dichter und Maler, wobei das Persönliche nicht ausgenommen wird, über die Literaturkritik und deren Akteure.

In den "Brunnen-Heften" finden all diese Gedanken zum ersten - und oft auch: zum letzten - Mal eine Form, die unabhängig ist nicht nur vom Regime der Genres, sondern auch von ihrer öffentlichen Verwertung. Dabei muss man, um die Bedeutung dieses Unternehmens zu verstehen, daran denken, wo sich Robert Gernhardt in seiner künstlerischen Laufbahn befand, als er sich dieses innere Reservat einrichtete: Die Titanic war noch nicht gegründet, er galt als Verfasser von komischer Gebrauchskunst, als zuverlässiger Lieferant von heiteren Kleinwerken.

Der von der Form bewältigte Stoff

In den "Brunnen-Heften" ist der Dichter und Zeichner, der klare, kühle Kopf zu erkennen, der er damals auch schon war - und wenn er in den neunziger Jahren endgültig in die Mitte der deutschen Kultur einrückte, dann, weil sich die Gesellschaft verändert hatte, und nicht weil er ein anderer geworden wäre. Maß und Charakter dieser Differenz lassen sich an den "Brunnen-Heften" in schlagender Deutlichkeit erkennen.

Der Schriftsteller Martin Mosebach, seit Mitte der achtziger Jahre ein enger Freund Robert Gernhardts, erklärte in seiner Eröffnungsrede zur Marbacher Ausstellung, dass es der Klassizismus gewesen sei, der den Künstler in die Komik getrieben, und der Sinn für das Komische, der ihn zu einem Klassizisten gemacht habe.

Denn der von der Form bewältigte Stoff sei, "immer zugleich ein von der Form überwältigter Stoff, uneigentlich geworden, aus den Lebensnotwendigkeiten herausgerückt in die Sphäre einer Freude, die am Gelingen eines selbstgeschaffenen Regelwerks ein sternklares Genügen finde". Wie es sich mit diesem "Bewältigen" verhält, in allen Etappen und Abstufungen, ist an den "Brunnen-Heften" abzulesen - in Gestalt betonter Behelfsmäßigkeit, vielleicht nie reproduzierbar und doch für die Nachwelt eingerichtet.

Noch gibt es keinen Plan, die "Brunnen-Hefte" als Ganzes zu edieren und zu veröffentlichen. Ob es je geschehen kann, ist ungewiss, allein schon eingedenk ihres Umfangs. Doch ist, was sich umso deutlicher erkennen lässt, je jünger das jeweilige Heft ist, der fremde Leser durchaus vorgesehen: Jede einzelne Seite ist gestaltet, bis in die Schriftzüge hinein, und Robert Gernhardt wird, soweit sich dies anhand des ausgestellten Materials sagen lässt, selten wirklich persönlich. Allerdings würde in jeder Form der Reproduktion verloren gehen, dass die "Brunnen-Hefte" selbst ein großes Kunstwerk sind - dies ist nur in Marbach zu erfahren.

"Kippfiguren. Robert Gernhardts Brunnen-Hefte". Literaturmuseum der Moderne, Marbach, bis 24. Februar 2008. Das Begleitbuch, in dem zwei Hefte reproduziert sind, kostet 12 Euro.

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