Richard Yates: Ruhestörung:Höllensturz

Säufer, Frauenheld, Choleriker: Mit dem Romanhelden John Wilder zeichnet Autor Richard Yates ein grimmiges Zerrbild seiner selbst. Trotzdem ist Ruhestörung höchst aktuell.

Christopher Schmidt

Schon der Titel von Richard Yates' Roman Ruhestörung (Disturbing the Peace) ist purer Sarkasmus. Ob es nicht besser für ihn hier sei, als draußen durch die Straßen zu laufen, bis ihn die Polizei wegen Ruhestörung einbuchte, fragt der junge Arzt von der Nachtschicht. Als sei es wichtiger, die Nachtruhe friedlicher Bürger zu schützen, als einen Mann vor dem Höllensturz zu bewahren.

Mad Men

Könnte fast John Wilders Alter Ego sein: Company Man Don Draper (Jon Hamm) aus der US-TV-Serie

Mad Men

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(Foto: Foto: Verleih)

Denn mit "hier" ist gemeint: die Station für gewalttätige Männer in der geschlossenen Psychiatrie des Bellevue Hospital, in die John Wilder im Jahr 1961 eingeliefert wird, nachdem er sich nach einer Dienstreise nicht mehr nach Hause traut. Übernächtigt und volltrunken hockt er in einer Bar von Manhattan und ruft seine Frau Janice an, um ihr zu sagen, dass er in Chicago eine Kollegin aus der PR-Abteilung einer Whiskey-Brennerei "fünfmal gevögelt" hat. Jetzt fürchtet er, er könne Janice und seinen zehnjährigen Sohn Tommy umbringen, sobald die Wohnungstür hinter ihm zuschlägt.

Doppelt so gut wie Alkohol

John Wilder wird ganze fünf Tage im Bellevue verbringen, denn es ist das Labor-Day-Wochenende, und die Ärzte haben frei. Nach seiner Entlassung verspricht er, regelmäßig zu den Treffen der Anonymen Alkoholiker zu gehen und es mit einer Psychotherapie zu versuchen. Meistens jedoch verbringt er die Abende in irgendeiner Bar, und bei einem Psychiater bleibt er erst, als er einen gefunden hat, der ihm Psychopharmaka verschreibt, deren Wirkung die des Alkohols verdoppelt.

John Wilder ist 36 Jahre alt, er arbeitet als Anzeigenverkäufer beim American Scientist und ist in seinem Job sehr erfolgreich. Wilder hat ein Mickey-Rooney-Gesicht und imitiert den Hollywood-Schauspieler Alan Ladd nicht nur, was die Frisur betrifft. Denn auch Wilder träumt von einer Karriere beim Film, und er fühlt "Größe" in sich. Im Übrigen ist er ein Säufer und Frauenheld, ein Großmaul und unberechenbarer Choleriker. Und ein grimmiges Zerrbild des Autors Richard Yates, der ihn mit den schlimmsten Eigenschaften seiner selbst ausgestattet hat. Die alkoholischen Exzesse hat Yates (1926-1992) genauso erlebt wie die psychischen Zusammenbrüche. Auch er war wie Wilder ein selbstzerstörerischer Charakter, Drogen und Bourbon waren sein Fluch.

Auch er hat sich wie Wilder in einem seiner schizoiden Schübe für Christus gehalten und, barfuß auf dem Highway laufend, den Inhalt seiner Brieftasche verstreut; auch er musste immer wieder in stationäre Behandlung. Doch während Yates seinen heillosen Helden immer tiefer in den Abgrund stürzen lässt, hoffte der Autor für sich selbst noch auf Rettung.

Denn im Roman porträtiert er sich noch in einer zweiten Figur, dem Schriftsteller Chester Pratt, der - wie Yates - mit einem furiosen Debütroman auf sich aufmerksam gemacht hat, dann - wie Yates - dem Alkohol verfiel, und - ebenfalls wie Yates - eine Zeitlang im Justizministerium als Redenschreiber für Robert Kennedy tätig war. Dieser Pratt ist Wilders Nebenbuhler, lange kann sich dessen junge Freundin Pam nicht zwischen beiden Männern entscheiden. Doch im Gegensatz zu Wilder gelingt es Pratt, trocken zu werden. Am Ende sehen wir ihn in einem hübschen kleinen Haus in den Hollywood Hills, wo er voller Zuversicht an seinem zweiten Roman arbeitet und sich nach getaner Arbeit ein Gläschen Coca Cola gönnt. Chester Pratt sticht Wilder nicht nur bei Pam aus, er wird ihm noch eine andere Demütigung zufügen.

Wilder ist ein paar Jahre nach seinem ersten Zusammenbruch nach Hollywood gekommen, um Koproduzenten für den Film zu finden, den ein paar ambitionierte Jungfilmer über seine Zeit im Bellevue gedreht, aber nie fertiggestellt haben. Doch Wilders Partner meint, man müsste das Material erweitern und die Hauptfigur ausbauen, und er drückt das so aus: "Ich würde sagen, er soll komplett verrückt werden. Wir löschen ihn aus." Beim Nachdenken entsteht das Bild eines unglücklich verheirateten Familienvaters, der einem gut bezahlten, aber sinnlosen Job in der Werbebranche nachgeht. Als einziger am Tisch weiß Wilder, wie nahe diese Idee der Wirklichkeit kommt, ohne jedoch zu ahnen, wie prophetisch die Auflösung ist. Das Drehbuch soll kein anderer schreiben als sein Rivale Chester Pratt.

Lesen Sie weiter auf Seite zwei, warum der Roman gerade heute so interessant ist.

Bitterböse Ironie

Hier nimmt die Geschichte eine für Richard Yates typische Wendung, wie man sie aus seinem Suburbia-Klassiker Zeiten des Aufruhrs kennt. Die Produzenten halten die Idee, einen unglücklichen Werbemenschen verrückt werden zu lassen, für zu klischeehaft. Aber offensichtlich ist das wahre Leben noch viel klischeehafter als das Kino. Und darin liegt die bitterböse Ironie, für die John Wilders Schizophrenie nur ein Ausdruck ist.

Ein Mann und sein Drink

Denn er begehrt ja nur gegen den amerikanischen Traum auf, weil er für ihn nicht in Erfüllung zu gehen scheint; den Traum selbst stellt er nicht in Frage, er identifiziert sich vielmehr bis zur Selbstzerstörung mit dem Erfolgsdenken, das perfekt von John F. Kennedy verkörpert wird. Erst als ihm Pam, die reich, jung und schön ist wie die Stilikone Jackie Kennedy und auch noch so aussieht wie sie, nicht mehr das Gefühl geben kann, selbst dieser Mann zu sein, beginnt er, Kennedy zu hassen und behauptet, er sei der Mann gewesen, der in Dallas auf den Präsidenten geschossen hat.

Dunkel ahnt Wilder die Doppelmoral der amerikanischen Gesellschaft, die er jedoch nicht durchschaut. Für seine Kunden aus der Spirituosenbranche etwa formuliert Wilder den Grundsatz, dass der American Scientist seine Leser nie frage, was sie trinken und wie viel. Alkohol ist eine akzeptierte Droge, und wenn einer wie Wilder sie nicht verträgt, dann ist er das Problem, nicht sein Drink.

Was ihn an dem Film über Wilders Aufenthalt im Bellevue störe, sagt dessen Hollywood-Partner einmal, sei, dass die Hauptfigur zu schemenhaft bleibe, nicht greifbar werde. Yates' Roman leidet unter dem entgegengesetzten Problem: Er hat nur eine einzige Figur, die nicht schemenhaft ist, nämlich John Wilder. Die Erfolglosigkeit des Buches sowie aller späteren, von denen kein einziges mehr lieferbar war, als Yates 1992 starb, dürfte jedoch einen anderen Grund haben.

Blindwütig und begriffslos

Als Richard Yates' erster Roman Revolutionary Road (Zeiten des Aufruhrs) 1961 erschien, war der Autor eine Hoffnung. Doch er brauchte acht Jahre, bis sein nächstes Buch fertig war. A Special Providence, das unter dem Titel Eine besondere Vorsehung vor zwei Jahren erstmals auf Deutsch erschien, ist ein schöner Roman, aber er ist ein Werk der Festigung eines Talents, der nichts Neues brachte. Danach vergingen wieder fünf Jahre, bis Yates' Ruhestörung vorlegte.

Das war 1975, und niemand wollte eine Geschichte lesen, die Anfang der Sechziger spielt. Als das Buch herauskam, war es unzeitgemäß, denn die Gesellschaft hatte bereits den Umbruch hinter sich, den Yates anmahnt. Die Ordnung, gegen die sich sein Held nur blindwütig und begriffslos auflehnt, um seinen Protest letztlich gegen sich selbst zu richten, galt als überwunden, Widerspruch war nicht opportun.

Um so interessanter ist das Buch heute, da die Fernsehserie Mad Men Kultstatus genießt, weil sie zeigt, wie stark der Konformismus sein muss, um eine Rebellion heraufzubeschwören. Ruhestörung ist so etwas wie das Buch zur Serie, die ja ebenfalls in den Kennedy-Jahren, in denen sich der Umbruch vorbereitete, in einer Werbeagentur der Madison Avenue spielt. Der Vorspann der Serie zeigt ihren Helden, der so mittelmäßig ist wie John Wilder, in freiem Fall.

Er stürzt vom Dach eines Hochhauses in die Schluchten von Manhattan, vorbei an haushohen Billboards, auf denen seine Dämonen zu sehen sind: eine Frau in einem enganliegenden Cocktailkleid und ein riesiger Whiskey-Tumbler. Doch anstatt auf dem Pflaster aufzuschlagen, landet er wundersam weich und sicher in einem Clubsessel. Richard Yates übersetzt in seinem Absturz-Roman Ruhestörung diese Fallhöhe so: Als Wilder im Wahn einen Pfleger anfleht, ihn sterben zu lassen, gibt dieser zur Antwort: "Auf keinen Fall. Das verdienen Sie nicht. Wir haben uns was Schlimmeres für Sie ausgedacht, Mr. Wilder. Etwas viel, viel Schlimmeres. Sie werden leben."

RICHARD YATES: Ruhestörung. Roman. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2010. 300 Seiten, 19,95 Euro.

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