Ricarda Junge: Die komische Frau:Angst, Angst, Angst

Abneigungen, Abhängigkeiten und unschöne Spitzelgeschichten: Ricarda Junges moderne Geistergeschichte "Die komische Frau" erzählt von den Dämonen des Kreativprekariats.

Christoph Schröder

Die Hausvertrauensfrau hält alles fest, was sich in dem sozialistischen Vorzeigebau in einer Seitenstraße der Berliner Karl-Marx-Allee seit dem Jahr 1954 getan hat: Mieter und Mieterwechsel, Geburten und Sterbefälle, West-Besuche. Was sich in den sogenannten Hausbüchern nicht mehr wiederfinden lässt, das sind die Geschichten ihrer Bewohner, die Erschütterungen in den Existenzen, das Unheimliche, das Abweichende.

Der erste Satz von Ricarda Junges neuem Roman, ihrem mittlerweile dritten, legt die Vermutung nahe, dass Lena, die Ich-Erzählerin, eine Art von Fortschreibung jener Hausbuch-Tradition plant: "Im Folgenden werde ich davon berichten, was sich zwischen dem dreizehnten April und dem zehnten Mai dieses Jahres im Haus Löwenstraße Nummer eins in Berlin-Friedrichshain Sonderbares ereignet hat."

Hierhin, in den zu DDR-Zeiten nur privilegierten und stramm systemtreuen Bewohnern vorbehaltenen Monumentalkitsch, ist Lena gemeinsam mit ihrem Freund Leander und dem kleinen Sohn Adrian gezogen; sei es, wie behauptet, weil die Wohnungen weitaus besser geschnitten und praktischer sind, als das Äußere der Häuser es vermuten lässt; sei es, weil es auch ein wenig schick ist für zugezogene Westler, hier zu leben.

Die Jungfamilie dürfte als prototypisch für das junge Kreativprekariat gelten: Lena, ein Alter Ego der Autorin, hat ihren ersten, nicht weiter beachteten Roman veröffentlicht und schreibt Kolumnen für eine Tageszeitung; Leander, linker Idealist mit Willy-Brandt-Foto auf dem Schreibtisch, hat eine Anstellung bei einem Magazin gefunden. Man kommt so durch, doch die Einschläge, wie es einmal heißt, kommen näher.

Die Gespenster der Vergangenheit

Soll heißen: Auch die wirtschaftliche Situation der beiden befindet sich in einer Schieflage, zumal Leander seinen Job schnell wieder los ist, und das Paar sich noch dazu trennt. Lena und Adrian bleiben allein in der Wohnung in der KarlMarx-Allee. Und die Gespenster der Vergangenheit kriechen aus ihren Ritzen.

Das Wunderbare an Ricarda Junges moderner Geistergeschichte ist, dass sie sich auf unterschiedlichen Realitätsebenen plausibel lesen lässt. Die merkwürdigen Ereignisse, die nach dem Auszug Leanders in Lenas Wohnung einsetzen, könnten ihre Ursachen durchaus in einer Überlastung der überforderten Mutter haben: die Kaffeemaschine, die nicht ausgeschaltet wird; der Schlüssel, der außen an der Wohnungstür steckengelassen wird; Gegenstände, die sich nicht mehr an dem Platz befinden, an dem sie zuvor vermeintlich gelegen haben.

Ganz zu schweigen von Adrian, der immer wieder von der komischen Frau spricht, die sich angeblich in der Wohnung befindet - geht tatsächlich eine Fremde ein und aus, oder meint der Junge seine ihm zunehmend fremd vorkommende Mutter?

Es ist ein perfektioniertes System der kompletten Verwirrung, das Ricarda Junge um ihre Protagonistin herum aufbaut. Sicherheiten und Gewissheiten des Alltags schwinden dahin; Lena wird zum Durchlauferhitzer von Gegenwartsneurosen. Welche davon aus ihr selbst herauskommen und welche von außen an sie herangetragen werden, bleibt in der Schwebe.

Denn neben der psychischen Destabilisierung der Erzählerin selbst gibt es ein konkret bedrohliches Netz aus Abneigungen, Abhängigkeiten und unschönen Spitzelgeschichten aus der Zeit des DDR-Regimes, von dem das Haus überzogen ist. Das Hausbuch weiß darüber nichts, wohl aber die Hausvertrauensfrau, die nach wie vor in der obersten Etage über die Bewohner wacht.

Gerade weil die Erzählstimme ihren geradezu nüchternen Protokollstil konsequent durchhält, entfaltet "Die komische Frau" in der Darstellung unbeirrbarer historischer Kontinuitäten eine Atmosphäre des Unheimlichen.

Angst, Angst, Angst - das ist das zentrale Wort, um das dieser beeindruckende Roman kreist. An jeder Stelle ist sie spürbar, überall wird sie verdrängt oder verschwiegen. Angst vor Entdeckung, vor Enttarnung, Angst vor der Zukunft oder den eigenen Unzulänglichkeiten.

Durch den Angstfilter ist der Blick auf die Welt ein verzerrter - eine Perspektive, deren Darstellung Ricarda Junge nach ihrem vorangegangenen Roman "Eine schöne Geschichte" nun noch einmal verfeinert und radikalisiert hat.

RICARDA JUNGE: Die komische Frau. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010. 190 Seiten, 17,95 Euro.

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