Retrokolumne:Ruinen der Heiserkeit

Die Pop-Reissues der Woche. Diesmal mit den "Replacements", der einflussreichen, aber wenig bekannten New Yorker No-Wave-Band "ESG" und der Antwort auf die Frage, wie man mit ein paar Songs die Welt für eine Nacht aus den Angeln hebt.

Von Thomas Bärnthaler

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Sagen wir es, wie es ist: Der Rockmusiker, der sich verzehrt, ist ein Auslaufmodell. Ein Mythos, der sich schon lange verbraucht hat. "It's better to burn out, than to fade away", sang Neil Young 1977, um Johnny Rotten willkommen zu heißen im Klub der ewigen Rebellen. (25 Jahre später schrieb Kurt Cobain diese Zeilen auf seinen Abschiedsbrief, ehe er sich in den Kopf schoss.) Im Zeitalter der Selbstoptimierung hingegen gilt einer, der bereit ist, seine Work-Life-Balance und eine gesicherte Existenz für ein paar Songs über Bord zu werfen, nicht länger als Rebell, sondern als armer Irrer. Wenn sich heute also einer wie Pete Doherty herausnimmt, leicht einen sitzen zu haben und drei Stunden zu spät zum Gig zu erscheinen, kann es ihm passieren, dass die Leute ihr Geld zurückfordern oder schlimmer noch, ihn bemitleiden. Dabei kann ein Konzert, das von Chaos und Unberechenbarkeit lebt, ein Moment der Befreiung sein, weil in ihm Wahrhaftigkeit und Würde aufscheinen. Womit wir bei den Replacements aus Minneapolis wären, die sich Ende der Siebziger zusammenfanden und als einer der chaotischsten aber auch legendärsten Livebands der Postpunkt-Ära galten. Weil sie ziemlich rasante Dreiakkordnummern spielten, schlug man sie zunächst dem Punk zu. Doch noch viel mehr waren sie dem Rock der Siebziger verbunden und überhaupt viel zu lebenslustig, als sich von irgendeiner Art von Nihilismus den Spaß am Erwachsenwerden verderben zu lassen. "Wir schreiben Songs, nicht Gitarrenriffs mit Parolen", sagte Sänger Paul Westerberg einmal. Die Replacements orientierten sich am melodischen Punk der Buzzcocks oder der New York Dolls, aber eben auch an den Mitsing-Refrains der Beatles, dem Powerpop von Big Star und insgeheim auch am Heartlandrock Bruce Springsteens oder Tom Pettys. Ja, es konnte sogar vorkommen, dass die Replacements bei Konzerten ein Stück von Bryan Adams spielten, wenn ihnen danach war. Welch Energie dieser Unbefangenheit freisetzen konnte, zeigt die jüngste Veröffentlichung von "For Sale: Live at Maxwell's 1986", eines denkwürdigen Konzertmitschnitts, der bislang nur als Bootleg kursierte. Er fängt eine Band ein, die vor ihrem späteren kurzzeitigen Durchbruch im Collegeradio stand, deren Mythos sich aber auf ihre Auftritte gründete, bei denen Triumph und Scheitern zwei Seiten der gleichen Medaille waren. Anders als bei ihren späteren Studioalben, die sie in die Latenight-Shows und sogar ins Vorprogramm von Tom Petty & The Heartbreakers brachten, herrscht auf "For Sale" noch Anarchie und Zügellosigkeit. Man kann das Klimpern umfallender Bierflaschen auf der Bühne hören. Die Instrumente sind lausig gestimmt, Sänger Paul Westerbergs Stimme eine Ruine in Heiserkeit. All das tut der Dringlichkeit aber keinen Abbruch, mit der die Replacements hier ihre Vorstellung eines runden Abends zelebrieren. Grotesk verstolperten Coverversionen ("Fox on the Run" von Sweet, "Nowhere Man" von den Beatles) stehen gloriose gegenüber ("Black Diamond" von Kiss). Hier wird auf Sicht geflogen, improvisiert, das aber mit todesverachtender Hingabe, denn für jeden vergeigten Song, hat Sänger und Bandleader Paul Westerberg mindestens drei mitreißende im Köcher. So wie "Unsatisfied", eine wütende Powerballade, die den diffusen Phantomschmerz einer ganzen Generation artikulierte: Ihr habt alles, was ihr euch erträumt habt, krächzt Westerberg, alles liegt da, aber alles ist eine Lüge. Kurt Cobain, so heißt es, war großer Replacements-Fan. "For Sale" ist ein Dokument der Verschwendung, ein kleines Vermächtnis des großen Traums, mit ein paar Songs die Welt aus den Angeln zu heben. Wenigstens für eine Nacht.

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Preisfrage: Was haben LL Cool J, die Beastie Boys, Tupac Shakur, Nine Inch Nails, The Liars und Miles Davis gemeinsam? Sie alle haben sich schamlos am Minimal-Funk der wenig bekannten New Yorker No-Wave-Band ESG bedient und mit Hilfe von ESG-Samples ziemlich wegweisende neue Musik kreiert. Das brachte der Band zwar Anerkennung unter Strechtlimo fahrenden Rappern, aber wenig Zählbares ein, was sie später auf einem Album mit dem schönen Titel "Sample Credits Don't Pay Our Bills" recht eindeutig zum Ausdruck brachte. Das ursprünglich von vier Schwestern 1978 in der Bronx gegründete Bandprojekt ist mit wechselnden Mitgliedern immer noch aktiv und bringt bis heute das Publikum von Open-Air-Festivals zum Kopfnicken. Jetzt ist mit "Keep On Moving" ein wunderbares Spätwerk von 2006 wiederaufgelegt worden - sauber filetierter Electrofunk, technoid in der Anmutung, aber direkt auf die Hüfte zielend. Die Beats sind spartanisch, punktiert von konzisen Percussions und Gitarrenlicks. Hie und da werden Tanzbefehle skandiert. Dank des ruppigen Grundtons wird's aber nie langweilig. Im Gegenteil: Die Platte klang damals schon zeitlos-futuristisch und tut es noch immer. Die Samplediebe dieser Welt werden es aufmerksam verfolgt haben.

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