Reportage:Mit der Leere leben

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Das italienische "Kalifornien" 1967: Blick in die Alfa-Romeo-Werke bei Mailand. (Foto: Alfa Romeo)

Italiens Industrie verschwindet. Einstige Fertigungsanlagen werden zu Museen oder Flüchtlingsunterkünften. Literatur, Kunst und Geschichtsschreibung gewöhnen das Land schon mal an die Lücke.

Von Thomas Steinfeld

Wenige Minuten bevor der Zug, von Norden kommend, den Mailänder Hauptbahnhof erreicht, passiert er eine gigantische Ruine, die aus einer weiten Brache aufragt. Sie besteht fast nur noch aus einem stählernen Skelett, so hoch wie ein zehnstöckiges Haus. Einige niedrigere Hallen schließen sich daran an. Sesto San Giovanni heißt die ehemalige Kleinstadt, zu der dieses Gelände gehört. Sie ist längst nur noch ein Vorort der Metropole. Die Ruine aber war eine Fabrik, die den stolzen Namen "Falck" trug, nach ihrem Gründer.

Im frühen zwanzigsten Jahrhundert hier angesiedelt, war diese Fabrik in den Siebzigern das größte private Stahlwerk Italiens. Im Jahr 1995 erlosch der letzte Hochofen. Kurze Zeit später widmete der Mailänder Maler und Schriftsteller Emilio Tadini der Fabrik einen Nachruf: Eine Halle nach der anderen, jede so groß wie der Mailänder Dom, schreibt er, habe sich in Schutt und Asche verwandelt. Gussformen, mit äußerster Präzision gefertigt, seien zu Schrott geworden: "Dies ist das öde Land. Schlimmer noch, wenn es die Hölle gäbe, sähe sie nicht viel anders aus."

Dort soll eine neue Siedlung entstehen, um eine "città della salute" herum, ein Krankenhaus wie eine Stadt. Das Grundstück wurde von arabischen Investoren gekauft, doch im vergangenen Jahr gab der Architekt Renzo Piano den entsprechenden Auftrag zurück: Was dort entstehen solle, sagte er, sei das Gegenteil von dem, was er sich unter Urbanität vorstelle.

Am Anfang standen die Seidenhersteller und die Weber. Es folgten die Ingenieure

Emilio Tadinis Nachruf ist Teil einer Anthologie, die den doppeldeutigen Titel "Fabbrica di carta" trägt - also "Papierfabrik" oder "Fabrik aus Papier" - und vor Kurzem in der fünften Auflage seit 2013 erschien. Fast hundert literarische Darstellungen der italienischen Industrie und des italienischen Industriearbeiters haben die beiden Herausgeber, der Literaturwissenschaftler Giuseppe Lupo und der Historiker Giorgio Bigatti, in diesem Buch versammelt. Entstanden sind sie zwischen den Dreißigern und der Jahrtausendwende. Es sind in Deutschland bekannte Namen darunter, Italo Calvino, Erri de Luca und Primo Levi zum Beispiel. Zusammen bilden sie einen Nekrolog auf die italienische Fabrik, der, ins Imaginäre und Literarische übertragen, mindestens die Ausmaße der Werkhalle der Firma Falck annimmt.

Es gibt zu dieser Literatur kein deutsches Äquivalent: Die "Literatur der Arbeitswelt" war in der alten Bundesrepublik ein Unternehmen weniger bedeutender Autoren, Wolfgang Hilbig gehörte zu einem sozialistischen Staat. In Italien jedoch scheint eine solche Dichtung unausweichlich zu sein, auch heute noch. Und nicht nur die Dichtung, sondern auch die Fotografie der Industrie und der Arbeit, wie sie seit dem Jahr 2013 in einem eigenen Museum mit dazugehörigem Archiv, dem "Mast" in Bologna, dokumentiert wird.

Ende April wurde ein Buch mit dem scheinbar surrealistischen Titel "Tutto è in frantumi e danza" ("Alles liegt in Scherben und tanzt", Mailand 2017) veröffentlicht, verfasst von Guido Maria Brera, einem Fondsmanager, der als Erzähler der Wirtschaftskrise berühmt wurde, und Edoardo Nesi, einem Schriftsteller und Politiker.

Das Buch, das sofort zu einem Erfolg wurde, besteht aus einem Dialog zwischen den Autoren. "Erinnern Sie sich daran, dass Sie in der besten aller Welten lebten und es nicht einmal bemerkten?", fragt Nesi. Sein größter Bucherfolg war der autobiografische Roman "La storia della mia gente" ("Die Geschichte meiner Leute") aus dem Jahr 2012, in dem er erzählt, wie er das Familienunternehmen, eine kleine Textilfabrik in Prato, übernahm und angesichts einer übermächtigen Konkurrenz aus dem Fernen Osten schließen musste.

In seinem jüngsten Buch wiederholt er diese Geschichte, in knapper Form und verbunden mit einer letzten Huldigung an ein feines Gewebe aus Leinen und Baumwolle, mit dem seine Firma zuletzt noch einmal die besonders anspruchsvollen Kunden beeindruckt hatte - "und dann sanken die Auftragszahlen weiter, und sie hörten nicht auf zu sinken".

Es gibt viele Verbindungen zwischen der Textilindustrie und den Stahlwerken. Eine der kürzesten verläuft über eine klassizistische Villa, die der Stoffhändler und Bankier Heinrich Mylius, geboren im Jahr 1769 in Frankfurt, gestorben 1854 in Mailand, im späten 18. Jahrhundert in Sesto San Giovanni hatte errichten lassen. Einen kleinen Park durfte die Villa behalten, ansonsten liegt sie zwischen modernen Apartmenthäusern.

Als das Stahlwerk der Firma Falck geschlossen worden war, und nicht nur dieses Unternehmen, sondern auch die Produktionsstätte des Motoren- und Fahrzeugherstellers Breda und die Fabrik Ercole Marellis, eines Produzenten von Lokomotiven, Generatoren und Elektromotoren, wurden in dieser Villa die "Fondazione Isec", ein Archiv und eine Forschungsstelle zur Industriegeschichte der Region eingerichtet. Verwahrt werden dort die Archive der Unternehmen der Region, darunter zum Beispiel die Konstruktionszeichnungen der Lokomotiven, die Marelli bis nach Chile exportierte, kleine Kunstwerke aus Bleistift und Tusche, an denen erkennbar wird, das die "industria metalmeccanica" einst auch ein Kulturunternehmen war. Eines Tages soll es hier vielleicht ein Museum der Industrie und der Arbeit geben.

Am Anfang, erklärt Giorgio Bigatti, der nicht nur Bücher über Arbeiterliteratur herausgibt, sondern auch Direktor des Instituts in Sesto San Giovanni ist, am Anfang hätten die Seidenherstellung und die Weber gestanden, also eine früh mechanisierte Produktion mit einem hohen Grad an Arbeitsteilung. Hinzugekommen sei die Landwirtschaft in der Po-Ebene, mit oft großen Gütern und einer entwickelten Wasserwirtschaft, zu der Pumpen und Rohrleitungen gehörten. So seien die Grundlagen geschaffen worden, zuerst für die Professionalisierung der Ingenieure, dann für die Entstehung des metallverarbeitenden Gewerbes.

Die Arbeitskraft sei billig gewesen, bedingt durch die späte Industrialisierung Italiens, und der Mangel an Rohstoffen habe ein Übriges getan: Vom Ersten Weltkrieg bis in die Siebziger-, ja noch in die Achtzigerjahre hinein, habe es eine Metallindustrie gegeben, die im Hinblick auf technische Neuerungen wie auf die Präzision der Fertigung den Weltstandard gebildet habe - und zwar zumeist in Gestalt von Familienunternehmen, die oft nicht groß waren, aber ein dichtes Netz bildeten, aus deren Mitte ein paar mächtige Firmen aufragten, wie eben Falck oder auch der Reifenhersteller Pirelli (seit 2015 in chinesischem Besitz).

Der Titel "Tutti è in frantumi e danza" ist ein Zitat. Im Original heißt es "everything is broken up and dances" und gehört zu einem Gedicht des amerikanischen Sängers Jim Morrison, das den Titel "Ghost Song" trägt. Geschildert wird eine Szene, in der ein Lastwagen mit indianischen Erntearbeitern verunglückt ist, was von einem Kind (dem Sänger in jungen Jahren, der Zeuge eines solchen Ereignisses wurde) beobachtet wird. Die Toten liegen auf der Straße, und von Jim Morrison ist der Kommentar überliefert, dass sich deren Seelen in seinem Inneren niedergelassen hätten.

Das Bild ist so pathetisch, dass Brera und Nesi sich in einer Rezension vorwerfen lassen mussten, als "bluesman" der italienischen Industriegesellschaft zu posieren, während es ihnen selbst offensichtlich nicht schlecht gehe. Letzteres ist kaum zu bezweifeln, und doch trifft die Kritik nicht: Denn von der Textil- und der Stahlindustrie, einst der Mitte der italienischen Wirtschaft, ist nach den Neunzigern wenig geblieben, und nach Beginn der Finanzkrise im Jahr 2008 verlor das Land noch einmal mehr als zwanzig Prozent seiner industriellen Kapazitäten. Die Frage ist allerdings, inwieweit man diesen Niedergang als persönliches Schicksal wahrnimmt.

In einem weiten Kreis war die Industrie um Mailand herum angesiedelt: in Sesto San Giovanni die Stahlwerke, in Arese die Autohersteller von Alfa Romeo, in Lambrate deren Kollegen von Lambretta und Innocenti, in Taliedo der Flugzeugbauer Caproni, in Bicocca die Reifenfabrik von Pirelli. Und während die Stadt selbst bürgerlich war und blieb, ein Ort der Verwaltung und der Banken, des Verlagswesens und später der Mode, die reichste Großstadt Italiens, entstand um sie herum eine "Kultur der Maschinen" ( Civiltà delle Macchine, so der Name einer zwischen 1953 und 1979 veröffentlichten Zeitschrift), in der industrielle Produktion und Lebensform stets zusammengedacht werden sollten: als italienisches "Kalifornien" für die einen, als lombardisches "Stalingrad" für die anderen, in jedem Fall aber als eine Veranstaltung von äußerster Modernität, woran die mehr oder minder kommunistischen Arbeiterbewegungen einen erheblichen Anteil hatten. Auch an ihnen macht sich mittlerweile ein Bewusstsein von verlorener Heimat fest. "Sind die Kirchen noch offen", so Nesi, "für den Fall, dass jemand beten will?"

Der Sohn greift den Vater an, weil dieser so stolz auf seine Arbeit ist. Erst später versteht er ihn

"Un' educazione milanese" lautet der Titel eines autobiografischen Romans, der im Herbst erschien und der nun für den "Premio Strega", die höchste literarische Auszeichnung Italiens, nominiert ist - "Eine Mailänder Erziehung" oder: "Aufgewachsen in Mailand", wobei diese Sozialisation einen entschieden proletarischen Charakter besitzt. Alberto Rollo, der Autor, war Kritiker, Übersetzer und ist Cheflektor eines großen Verlages. Seine Buch erzählt von den Spaziergängen des Verfassers durch eine in großen Teilen obsolet gewordene Industrielandschaft in der Peripherie, es berichtet vom Vater, einem Metallarbeiter, dessen größtes Vergnügen die sonntäglichen Ausflüge auf dem Motorrad waren, die er unternahm, um Fabriken und Werkstätten zu betrachten; es erinnert an den Freund, der mit seinem Fiat 500 gegen eine Mauer fährt und stirbt. Alberto Rollo spaziert durch seine eigene Geschichte, entwirft vergangene Topografien, nimmt die alten Bücher in die Hand, geht noch einmal in das Stück "Bürgerkrieg in Chile" von Dario Fo. Das Buch ist die Geschichte einer Bildung, die wenig von dem auslässt, was zwischen den Fünfzigern und den späten Siebzigern von kultureller Bedeutung war. Aber es ist auch das Dokument eines Klassenbewusstseins, das nicht überwunden werden soll.

Dass Alberto Rollo eine Geschichte der Verluste geschrieben hat, will er nicht bestreiten. Man müsse aber unterscheiden, sagt er, zwischen dem Bewusstsein von Verlusten und der Nostalgie. Mit dieser sei er nicht einverstanden, die Verluste nehme er hin: Ein solches Bewusstsein sei politisch, in einem tieferen Sinn. Dann spricht er noch einmal vom Vater, den er als junger Mann angegriffen habe, weil dieser so stolz auf seine Arbeit gewesen sei. Später habe er verstanden, dass der Vater recht gehabt habe.

Wenn Alberto Rollo so redet, vom Schleifen, vom Drehen, vom Fräsen, wünscht man ihm, dass es, aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz, eines Tages obenliegende Nockenwellen geben möge, die nach dem Prinzip des "slow food", also als regionales, hochwertiges, gleichsam signiertes Produkt gefertigt wurden. Die ehemalige Destille der Stadt habe der niederländische Architekt Rem Koolhaas für das Modeunternehmen Prada zum Museum umgebaut. In manchen verlassenen Industrien lebten jetzt Flüchtlinge, diese Fabrik habe einen vergoldeten Turm. Ein Spukhaus sei die Anlage nun, und was hier umgeht, ist der Geist einer vergangenen Industrie. Beinahe ist es, als hätte auch Alberto Rollo beschlossen, an seinem Ort umzugehen.

Was aus Italien wird, scheint unsicher zu sein, mit wachsenden Schulden, mit geringem Wachstum und ohne Aussichten, den Ausfall ganzer Branchen der Industrie auszugleichen. Dass Italien den Euro auch nur mittelfristig als Währung behalten könne, halten viele Ökonomen längst für unwahrscheinlich. Von einem "Zustand der Leere" spricht der Politologe Marco Revelli in einem schmalen Werk mit dem Titel "Populismo 2.0", das Anfang April erschien und ebenfalls sofort zum Bestseller wurde. Die Literatur, die Kunst und die Geschichtsschreibung scheinen schon einmal zu prüfen, wie es sich mit der Leere leben lässt.

© SZ vom 01.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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