Reportage aus der Finanzwelt:Die unendliche Toleranz des Geldes

Mit der Neugier eines Ethnologen erkundet Joris Luyendijk die Parallelwelt der Londoner Banker: Er erzählt von einem Inselreich im Nebel, auf dem Söldner ihren Geschäften nachgehen.

Von Jens Bisky

Was aber macht ein Goldman-Banker mit fünf Millionen Dollar? - Fragen wird er, wo der Rest geblieben sei. Das ist einer der Witze, die man sich am wichtigsten Finanzplatz der Welt, in der City of London, erzählt; ein Witz auch über das Klischee vom gierigen Banker. Der Labour-Premier Gordon Brown meinte 2007, die City verkörpere "genau die Form von avancierter und ideenreicher Industrietätigkeit mit hoher Wertschöpfung", die Großbritannien im globale Wettbewerb brauche. Nach der Pleite von Lehman Brothers im Herbst 2008 saßen auch in der City Leistungs- und Zuträger ratlos in ihren Büros und starrten wie gelähmt auf die Bildschirme; einige riefen ihre Familien an und gaben Anweisungen zum Überleben: Geld abheben, Vorräte einkaufen, Gold erwerben, die Kinder aufs Land evakuieren.

Der Herbst 2008 hat Bankern wie Gesellschaften eine Nahtoderfahrung beschert, ein Erlebnis der Ohnmacht und Verwundbarkeit. Dagegen hilft die Empörung über hohe Boni und verwerfliche Gier. Leider trägt das aber wenig zum Verständnis bei. Der Journalist Joris Luyendijk hält die "Fokussierung der Öffentlichkeit auf die Gier der Banker" für den größten Fehler, den man nach dem Lehman-Fall machen konnte. Im Auftrag des Guardian begann er 2011 einen Blog über den Finanzdistrikt Londons zu schreiben, über den Planet Finance aus Vermögensverwaltung, Bankensystem und Versicherungswesen.

Bank Of England Ahead Of Rate Decision

Eine Karriere in der City hat viel mit Ausdauertraining zu tun: vor der Bank of England.

(Foto: Matthew Lloyd/Bloomberg)

Es war nicht einfach, dessen Bewohner zum Reden zu bringen. Mögen sie sich gern über alle Tabus hinwegsetzen, eines bleibt: das Gebot der Verschwiegenheit. Selbst über den Schweigekodex muss geschwiegen werden. Doch Luyendijk, der im Nahen Osten gearbeitet hatte und vom Finanzwesen nicht mehr verstand als wir alle, blieb beharrlich, sicherte Anonymität zu, traf sich mit Aussteigern und Redewilligen in Cafés oder Restaurants, veröffentlichte erste Gespräche und provozierte: "Die Demokratie wirkt immer mehr wie ein System, in dem die Wähler lediglich bestimmen, welcher Politiker die Weisungen des Finanzsektors ausführen darf - Aber wer seid ihr eigentlich?"

Es meldeten sich immer mehr bei ihm, endlich auch Frauen. In zwei Jahren kamen gut 200 Interviews zustande, in seinem Buch "Unter Bankern" - Originaltitel "Dit kan niet waar zijn. Onder bankiers" - resümiert Luyendijk seine Erfahrungen. Dabei vermeidet er Fallen, etwa die der Verniedlichung durch Einfühlung. In kaum einem anderen Wirtschaftszweig kann ein einzelner Angestellter in kurzer Zeit so viel Schaden anrichten. Der existentielle Ernst - Finanzkrisen zerrütten Gesellschaften - ist immer zu spüren, ohne deswegen zur Dämonisierung zu werden, die bloß dem wahnhaften Selbstbild mancher "Masters of the Universe" schmeicheln würde.

Reportage aus der Finanzwelt: Joris Luyendijk: Unter Bankern. Eine Spezies wird besichtigt. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2015. 320 Seiten, 19,95 Euro. E-Book: 15,99 Euro.

Joris Luyendijk: Unter Bankern. Eine Spezies wird besichtigt. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2015. 320 Seiten, 19,95 Euro. E-Book: 15,99 Euro.

Bei Georg von Wallwitz - "Odysseus und die Wiesel. Eine fröhliche Einführung in die Finanzmärkte" (2012) - konnte man lernen, wie man die aufgeblasenen Egos auf das ihnen zustehende Maß schrumpft. Luyendijk bietet das Vergnügen einer ethnologischen Expedition zu den Bankern, Mitarbeitern von Ratingagenturen, Versicherungsangestellten, Kontrolleuren, also zu Leuten wie du und ich.

Moment mal, mag da manch aufgeklärter Zeitgenosse einwenden, das stimmt nicht, die Banker sind nicht wie ich, sie sind anders: besser in Mathematik, besser bezahlt - na und dann auch noch gierig. Es macht den intellektuellen Charme von Luyendijks Buch aus, dass er diese Abwehr-gesten zurückweist. In den Kommentaren zum Blog wurden Investmentbanker als "Psychopathen", "Spielsüchtige" oder "Parasiten" abgekanzelt. Er aber ließ sich sagen, dass viele Arbeiten in einer Investmentbank journalistischen Tätigkeiten ähneln. Man beobachtet Unternehmen, eine Branche, eine Region genau und über Jahre und sehr gründlich, schreibt Berichte, die von den Interessierten aufmerksam gelesen werden.

Hinzu kommen ähnliche Prägungen: Uni, Auslandsaufenthalte, Fremdsprachenkenntnisse, Zeitungslektüre, Vorlieben für diesen oder jenen Film, diese oder jene Musik: "sie verdienten zwar mehr als ich, gehörten aber zur selben soziokulturellen Schicht". Luyendijk ist klug genug, diesen Beobachtungen distanziert gegenüber zu stehen; er wäre nicht der erste Ethnologe, der sich mit den Menschen des von ihm erkundeten "Stammes" identifiziert.

In manchem erscheinen die Banker wie Pioniere einer Weltgesellschaft: Herkunft, Hautfarbe, sexuelle Neigungen zählen nicht, es geht um Leistung, wer besser ist, kann es weit bringen. In der deregulierten Finanzwelt können - anders als vor dreißig Jahren - "weiße heterosexuelle Männer aus der christlichen Mittelschicht" Frauen, Homosexuellen, Arbeiterkindern und vielen anderen den Zutritt nicht mehr einfach verwehren. "Amoralität bedeute gleiche Chancen für alle", sagen viele; die City sei "geradezu lächerlich tolerant", sagt eine britische Muslimin.

Leseprobe

Einen Auszug des Buchs stellt der Verlag hier zur Verfügung.

Die Händler "an der Front" reden zu wenig mit den Leuten in der Risikoabteilung - oder zu viel

Eben weil er sich auf die Binnenperspektive einlässt, kann Luyendijk die strukturellen Probleme genau erkennen. Dazu gehört etwa die Verinselung der Abteilungen. Die Händler "an der Front" und die klugen Rechner in den Risikoabteilungen kommunizieren wenig oder, was denselben Effekt hat, zu viel. Was die Mathe-Genies, die "Quants", ausgetüftelt haben, versteht an der Spitze kaum einer. Banken, die zu groß sind, als dass man sie pleite gehen lassen könnte, sind auf jeden Fall auch "too big to manage". Hinzu kommt die extreme Unsicherheit des Arbeitsplatzes. Wer von einer Minute zur nächsten gefeuert werden kann, wird sich kaum mit langfristigen Überlegungen plagen. Der ständige Ausscheidungswettbewerb befeuert Leistungsbereitschaft, aber auch allerlei Schlechtes im Menschen: Intrigantentum, Konformismus, Existenzangst.

Ausgedehnte Arbeitszeiten, der Zwang, ständig mitspielen, stets die eigene Position verteidigen zu müssen, und die hohen Gehälter führen zur lebensweltlichen Entkoppelung. Man existiert in der Seifenblase, das Private hat vor allem die Gestalt von Zahlungsverpflichtungen, Hypothekenraten, Schulgeld für die Kinder. Deswegen ist, trotz der Einsicht bei manchen Bankern, trotz guter Absichten, mit einer Besserung von innen her kaum zu rechnen.

So bliebt am Ende dieser Expedition die nun auch schon einige Jahre alte Frage, warum westliche Demokratien offenkundig nicht in der Lage sind, "Lösungen zu formulieren für eines der drängendsten Probleme unserer Zeit". Luyendijk hält es für töricht, deswegen Politik selbst abzuschreiben, sich ihr gegenüber zynisch zu verhalten. Die Abschaffung der Sklaverei und die Emanzipation der Frauen seien schließlich auch gelungen.

Aber daneben geistert ein Traumbild durch dieses Buch, eine Allegorie auf die Gegenwart nach 2008: der Traum von einem wie du und ich, der an Bord eines Flugzeuges sitzt, gelangweilt aus dem Fenster schaut, eine Stichflamme auflodern und wieder erlöschen sieht. Die Stewardess beruhigt, alles in Ordnung, Problem gelöst, alles im Griff; die Mitreisenden lesen, dämmern, trinken. Dennoch drängelst du dich raus, lässt dich von keinem aufhalten, eilst Richtung Cockpit, reißt die Tür auf - da sitzt niemand: ". . . das Cockpit ist leer".

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