R.E.M-Sänger Michael Stipe und Patti Smith:Der Star und seine Muse

Michael Stipe und R.E.M. sind ohne Patti Smith nicht zu denken. Einst erweckte die Punk-Rock-Musikerin den Band-Gründer und brachte ihn zur Musik. Jetzt trafen sich die beiden in Paris.

Willi Winkler

Was für schöne Wimpern er hat, offenbart Michael Stipe erst, wenn er im Dämmer am Fenster steht und auf den Innenhof des Pariser Hotels hinabschaut, der nur deswegen nicht quadratisch ist, weil in der Aussparung gegenüber Gipsgötter und Nymphen sich spätromantisch und fast friedhofsschön in unbekanntem Schmerz winden, aber vielleicht ist es auch Lust.

R.E.M-Sänger Michael Stipe und Patti Smith: ... und seine Muse Patti Smith, Punk-Rockerin und Foto-Künstlerin, die ihn einst erweckte.

... und seine Muse Patti Smith, Punk-Rockerin und Foto-Künstlerin, die ihn einst erweckte.

(Foto: Foto: AP)

Bildschön zerfurcht ist seine Stirn, eine schwere, interkontinentale Müdigkeit umgibt ihn, den melancholischen Weltreisenden. Hat er nicht schon alles gesehen, alles gehört, alles, bis auf Thomas Gottschalk, zu dem er als Nächstes muss, und der ihm, nachdem R.E.M. ein Lied abgeliefert hat, schwer bescheidwisserisch zu dieser Musik "für über Vierzigjährige" gratulieren wird?

"Music", singt Michael Stipe auf der neuen Platte, "Music will provide the light you can't resist", das Licht kommt durch die Musik, und es ist unwiderstehlich. Vielleicht ist sie sogar die Erleuchtung. Die anderen Bandmitglieder hängen - der Referent zitiert die neuesten Katastrophen vom Blackberry - irgendwo in der Luft zwischen London und Berlin oder auch noch am Boden.

Beziehung fürs Leben

Das Gepäck ist in Heathrow verloren gegangen, der neue Terminal. Stipe nimmt es milde amüsiert hin. Wie er nadelgestreift dasitzt am Fenster in diesem plüschigen Hotel, das nachts bestimmt Träume ausbrütet und Ritualmörder zu finstren Taten anstachelt, erinnert nichts an den manchmal so schönen R.E.M.-Lärm, aber das liegt womöglich nur an der irritierenden Ähnlichkeit mit dem bekannten Schauspieler Heiner Lauterbach. Für die der anständig in Georgia geborene Michael Stipe natürlich nichts kann.

Er hat sich von der Werbetour, die er und R.E.M. für ihr neues Album "Accelerate" veranstalten müssen, vorübergehend verabschiedet und ist allein nach Paris gekommen, um sich die Ausstellung anzusehen, die seine verehrte Freundin Patti Smith gerade in der Fondation Cartier erlebt. Mit ihr, und er sagt es wirklich so, "verbindet mich eine Beziehung fürs Leben".

Sie begann so unwirklich wie in einem Bildungsroman: Als der damals fünfzehnjährige Michael Stipe 1975 in der Village Voice liest, dass jetzt "Horses" erscheinen wird, die erste Platte von Patti Smith. Er bestellt die Platte, hört sie, hört "Gloria" und "Free Money", und beschließt, Punk-Musiker zu werden. Er folgt ihrer Empfehlung, kauft sich eine Gesamtausgabe der Werke Arthur Rimbauds, versteht nicht viel, liest die Gedichte von Paul Verlaine, versteht auch davon nicht viel, aber es ist alles besser als das Leben in Collinsville, Illinois. Rimbaud ist wie Patti Smith das Andere, New York.

Fast zwanzig Jahre später, da war aus dem Punk-Musiker Stipe längst der weltberühmte Indie-Künstler geworden und die Band R.E.M. stand vor einem absurd hohen Abschluss mit der noch absurd spendablen Musikindustrie, rief er seine Patin an. Patti Smith lebte damals nicht mehr in New York, sondern in Detroit, wohin sie sich mit ihrem Mann Fred Smith zurückgezogen hatte, um nur noch Ehefrau und Mutter zu sein.

Telepathische Erweckung

Inzwischen war Stipe nicht mehr fünfzehn, sondern reich und weltberühmt und hatte doch Angst, als er sie in ihrem Haus besuchte. "Da ist jemand, der ganz wichtig für einen war, und dann stellt sich womöglich heraus, der ist langweilig, man mag ihn nicht, weil er politisch oder religiös ganz anders gestimmt ist oder er ist" - Stipe macht eine deutliche Pause, ehe er das Wort doch wagt - "ein Arschloch."

Aber sie war so großzügig, offen, freundlich, und das, obwohl ihr Mann gerade gestorben war und es ihr selber gar nicht gut ging. "Ich habe ihr auseinandergesetzt, was sie für mich bedeutet, und wir haben uns in Sekundenschnelle verstanden." Er war nicht der Einzige, der ihr dabei half, aber er holte Patti Smith heraus aus der inneren Emigration, lud sie ein, auf der nächsten R.E.M.-Platte mitzusingen, "New Adventures in Hi-Fi"; seither ist sie immer wieder mit ihnen aufgetreten, der Star und seine Muse, die ihn einst telepathisch erweckte.

Michael Stipe macht beim Reden erschreckende Pausen, antwortet mit anstrengender Verzögerung und verbirgt nicht, dass er das vereinbarte Gespräch als schwere, vielleicht nötige, aber trotzdem sehr schwere Prüfung betrachtet. Über seine Freundschaft mit Patti Smith redet er viel lieber als über sich und seine Jugend als Soldatenkind.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, was Michael Stipe über amerikanische Politik denkt und wie sein Besuch bei Patti Smiths Foto-Ausstellung abläuft.

Der Star und seine Muse

Hastig isst er die Croissants, die ihm ein Assistent gebracht hat, trinkt ausgemergeltes, aber ganz bestimmt kerngesundes Mineralwasser, dann Tee, entdeckt ein Haar auf dem Brot, das er mit abgespreizten Fingern und einem angeekelten Wort entfernt, probiert die Trauben, erklärt sie für unzureichend gewaschen, läuft ins Bad, besieht sich im Spiegel mit Seitenblick zurück auf den Interviewer, ob der ihm denn zuschaut, kommt zurück, entschuldigt sich damit, dass sich ein Haar zwischen seinen Zähnen festgesetzt habe, das erst entfernt werden musste. Er hat sehr schöne Zähne und nichts von einem sicherheitsnadelverstärkten Punk-Musiker.

Amerikanische Ursünde

An seiner melancholischen Eleganz werden alle Fragen zuschanden. Die neue Platte ist da, das ist ein Verkaufsgespräch, natürlich, aber das Einzige, was ihn außer seiner Freundin zu interessieren scheint, ist Barack Obama. "Haben Sie seine Rede über die Rassenfrage gehört?" Stipe ist mit seiner Band 2004 für den glücklosen John Kerry aufgetreten, er hat sich davor und danach für alles Gute und Wahre eingesetzt (pro Bono, contra Bush) und doch so wenig damit erreicht. Aber Obama? "Muss Präsident werden!" Weil er in Washington noch nicht vernetzt sei, nicht allen möglichen Leuten verpflichtet, und in seiner Rede hat er endlich die amerikanische Ur-Sünde angesprochen, den Rassismus.

Das Gespräch klingt aus, er ist schließlich nicht zum Plattenverkaufen nach Paris gekommen, sondern als Freund, als Künstler, als artiste. Im Auto geht es mit den Betreuern vom Hotel zur Ausstellung. Jetzt kann wieder telefoniert werden, mit Los Angeles, mit New York, und was macht das Gepäck der Band? Am Louvre vorbei, der Eiffelturm blitzt hinten mit seinem RKO-Scheinwerfer, verknäulter Verkehr, wie es ihn außerhalb New Yorks in den USA niemals gäbe. Michael Stipe wird respektvoll behandelt von seinem Team, wie in Furcht vor einem Brauenrunzeln, man telefoniert für ihn, weiß, wie lang die Vernissage schon angefangen hat, schäkert ein bisschen über Abwesende.

Gräberkitsch auf Polaroid

In der Fondation Cartier staut sich das Premierenpublikum. Patti Smith hat am Tag zuvor die Chefredakteurin bei der Libération gemacht; sie ist ein Juwel für die Franzosen, ein Gottesgeschenk, endlich eine Amerikanerin in Paris wie in der Goldenen Zeit von Gertrude Stein und Hemingway. Die Ausstellung ist eine Gesamtschau, viele Fotos, Zeichnungen, auch ein paar erotische, Filme, Installationen, Artefakte, wenig Musik dabei.

Mit der Polaroid, mit der sie um die Welt zieht, hat sie kaum Menschen fotografiert, dafür Straßen, Häuser, Bahngleise. Manche Bilder sind naiv schön und vollendet, ein Pferd, ein Flugzeug in der Halbdistanz, andere geknipst, Eingebung des Augenblicks und nichts weiter. Viel Gräberkitsch, den sie, wie es ihre Art ist, todernst nimmt bei den vielen Toten in ihrem Leben.

In einer Vitrine liegt ein Rimbaud-T-Shirt, das sie in den 70ern in Paris gekauft, kurz getragen und erst wieder angezogen hat, als sie 1995 aus Detroit auftauchte und zurück nach New York ging. Eine Schreibmaschine steht da, Bücher, viele Seiten aus Notizbüchern, Rechnungen sogar, wenn sie in Paris billig übernachtet hat, alles Beweise.

Der ferne, unsterbliche Geliebte

In Briefen an ihren Geliebten Robert Mapplethorpe berichtet sie schwärmerisch wie eine Austauschschülerin von Paris, vom Leben auf der Straße, von ihrem Bemühen, etwas, irgendetwas Literarisches zu erleben, etwas Aufsehenerregendes anzustellen in Paris, der Stadt Rimbauds und Verlaines, ihrer Stadt, die sie jetzt wie eine Königin empfängt. Patti Smith hat eine Pressekonferenz gegeben und geht jetzt zwischen den Exponaten der Ausstellung herum wie in einem Kramladen ihrer Laufbahn.

Kunst ist es nicht, sondern viel mehr, ihr Leben, oft gespiegelt an dem anderer: Rimbaud, Brian Jones, Jimi Hendrix, Hermann Hesse, Virginia Woolf, Robert Mapplethorpe. Einmal kam Mapplethorpe aus San Francisco zurück und erklärte, dass er jetzt doch schwul sei; ihre Liebschaft war da zu Ende, aber der Pakt blieb, dass sie beide berühmt werden wollten. In dieser Ausstellung ist der 1989 an Aids verstorbene Mapplethorpe der ferne, der unsterbliche Geliebte, dem sie noch immer von ihrem rasenden Glück berichtet, endlich in Paris zu sein.

Die Mysterikerin hat Michael Stipe wie einen neuen Mapplethorpe adoptiert, und der Superstar dankt es ihr mit grenzenloser Verehrung. "Music will provide the light you can't resist" - vor allem ihre Musik war's. Als sie einander im Premierendurcheinander endlich gefunden haben, wird der strenge Star ganz demütig, lässt sich von ihr an die Hand nehmen, herumführen, alles zeigen und erläutern.

Großmutter und der böse Wolf

Ein seltsames Paar, und doch wie füreinander gemacht: der schwule Sänger Michael Stipe, 48, wie frisch aus dem Büro gepellt, und Patti Smith, sein "Idol", wie er sie nennt, 61 inzwischen, die langen Haare offen und sorgfältig verwuschelt, dazu eine Großmutterbrille, als wollte sie gleich vom bösen Wolf gefressen werden.

Auch Michael Stipe setzt eine abschreckende Brille auf, geht herum, schaut, staunt, bewundert. In eine Kammer führt sie ihn zuletzt hinein, wo ein Film über den französischen Dichter René Daumal (1908 bis 1944) läuft, den sie für die Ausstellung gedreht hat. Eine Art Matratze liegt auf dem Boden, es könnte eine abessinische Hütte von der Art sein, wie sie der aufgehörte Dichter und erfolgreiche Waffenhändler Arthur Rimbaud zeitweise bewohnt hatte.

An der Wand, bleistiftumrissen, die fünf Finger einer rechten Hand und die Inschrift. Michael Stipe was here.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: