R.E.M. lösen sich auf:Sie haben ihre Religion verloren

Es sind immer die Besten, die zuerst gehen. R.E.M haben sich für erledigt erklärt. Das kann man verstehen, muss man aber nicht. Denn niemals hätten sie dem U2-Hahn Bono das Feld überlassen dürfen. Eine Empörung.

Bernd Graff

Michael Stipe, inzwischen auch 51, was aber bei ihm wie mit den guten Weinen ist: sie altern nicht, sie reifen zur Verbesserung. Michael Stipe ist der Kleinste unter den Großen. Aber nur, was seine Körpergröße betrifft. Sonst ist er der Große unter den Großen, die seit den 80er Jahren Musik machen und Musikgeschichte geschrieben haben. Michael Stipe also ist der Anti-Bono. Dieser ist der Kräh-Hahn von U2, und sozusagen der natürlich Fressfeind von Stipe. Auch, wenn sie sich mutmaßlich gut verstehen und schon lustigtraurige Neil-Young-Lieder gemeinsam mit Moby auf Bühnen gesungen haben. Schlecht tun sie das, wie man bei Youtube nachhören kann, aber das ist ja klar, wenn Bono mitsingen, sorry: -krähen darf. Denn, das nur für die Spätgeborenen, Michael Stipe ist mit einer Stimme gesegnet, für die er seinem Herrgott auf Knien danken kann. Stipe ist gut, Bono ist Gutmensch. Und mehr nicht zu dem Krakeeler Bono.

Stipe hat der amerikanischen Band R.E.M. Stimme und Gesicht, Timbre und Esprit gegeben, er hat die Plattencover für die Band ausgewählt, 15 sind es in dreißig Jahren. Für Letztere, aber auch nur dafür, müssen ihm Gitarrist Peter Buck, Bassist Mike Mills und Drummer Bill Berry nicht immer auf Knien danken, genauso wenig wie für die Konzert-Kriegsbemalung, die sich ihr Frontmann in jüngeren Jahren über die Augen legte. Inzwischen posiert er ja als soignérer Herr mit Borsalino für das SZ-Magazin. Dennoch: Stipe, die Mutter Courage des Alternative- und College-Rock, war immer verlässlich da, wenn man emotional belastbare, keinesfalls aggressive oder von Wahnsinn und Gesinnung beflügelte Musik brauchte, eine ganze Menschen-Generation lang. Und wenn man in letzter Zeit R.E.M.-Konzerte besuchte, war es so, dass die lieben Kleinen, die man eben noch zu "Drive" aus dem Walkman in den Kindergarten brachte, nun selber ehrfürchtig in der ersten Reihe dem "Oh-My-Heart"-Stipe-Gottesdienst beiwohnten. "Oh My Heart" ist einer der besseren Tracks auf "Collapse Into Now", der letzten Platte aus dem Jahr 2011.

Man muss sich das klar machen: R.E.M. und U2 sind Produkte einer Zeit, in der Bands noch besser von CD-Verkäufen als von Konzert-Einnahmen lebten. Und das, obwohl sie Arenen füllten. Es war die Hochphase der in Heavy Rotation abgenudelten Musik-Videos auf MTV und Viva, in denen die Bilder noch jene bizarren Sound- und Textexperimente übertreffen wollten, in denen Michael Stipe von Sehnsucht, Hoffnung, Aufbruch, Bestimmung und unerreichbarer Weite mehr wisperte als sang. R.E.M. war gefesselte, nein: dann doch kaum niedergerungene Energie, die sich etwa mit "Drive", dem Auftaktsong von "Automatic for the People" aus dem Jahr 1991, den zeitweilig furchterregend spindeldürren Stipe als stimmvibrierendes Ventil suchte. "Hey, Kid, Rock'n'Roll", singt er da, "nobody tells you where to go, Baby." Diese Mischung aus großem Rock'n'Roll-Auftrag und melancholischer Selbstverlorenheit machte R.E.M. spätestens ab Ende der 80er Jahre zu einer der erfolgreichsten und einflussreichsten Bands der Welt.

"Das Ende der Welt, wie wir sie kennen"?

Und es ist dieses unbedingt immer melodisch-lässige Gemisch aus kontrollierter Explosion und ein vom Great American Songbook inspirierter Pop gewesen, das R.E.M. Mitte der 90er den bis dahin höchst dotierten Plattenvertrag der Musikgeschichte verschaffte: Warner versüßte der Band aus Athens, Georgia, 1996 den Verbleib beim Label mit 80 Millionen Dollar. Im folgenden Jahr verloren R.E.M. den Drummer Berry, der fortan Farmer sein wollte. Da war man nur noch zu dritt, nahm mit Leihdrummern drei düstere Alben auf, immer wieder von Trennungs- und Auflösungsgerüchten umwabert, und verschreckte damit einen Großteil der amerikanischen Fans. Mit dem Album "Reveal" knüpfte man zu Beginn des neuen Jahrtausends wieder an den alten Sound an, besann sich auf die eigene Größe - und übertraf alle Erfolge.

Ende einer Rockband: R.E.M. macht Schluss

R.E.M. sind am Ende, doch er wird weiter singen: Michael Stipe (hier bei einem Auftritt in Bonn im Jahr 2005).

(Foto: dpa)

Sicher, R.E.M. war auch eine allergische Reaktion auf "New Wave" und den "Post-Punk" der frühen achtziger Jahre, aber das erklärt nicht den 30 Jahre langen, ebenso dauerhaften wie beispiellosen Erfolg. Ihre Musik ist eine im besten Wortsinn eigenwillige Mischung aus balladen-lastigem Folk-Rock mit unverkennbaren Country-Einflüssen, mal meint man die Byrds zu hören, mal die frühen, noch pickligen Genesis des Peter Gabriel, mal die Smiths. Überzeitlich werden sie wohl sein, Musik und Stimme, überzeitlich und eingängig, nie ins Schlagerhafte changierend, obwohl ein Song wie "Losing My Religion" ein echter Gassenhauer für mondsüchtige Melancholiker ist, der seit seinem Erscheinen auf "Out of Time", 1991 wohl auch schon so manchen Fahrstuhl beschallt hat. Dasselbe gilt für "Man on The Moon" aus dem Jahr 1992 ("Automatic For The People"), eine Art Mini-Salami für den kleinen Musikhunger zwischendurch. Es glückt eben nicht alles, und in Manchem, was R.E.M. im Laufe der Jahre so ablieferte, meinte man mitunter auch einen Schwall lauwarmen Wassers zu erkennen, den man am liebsten mit einer Küchenrolle vom Tisch wischen wollte.

Man wird R.E.M. vermissen, obwohl man darauf wetten kann, Michael Stipes Stimme nicht ganz verloren zu haben. Der wird - egal wie und mit wem - weiter singen. Insofern ist das Ende von R.E.M. wohl doch nur das kleine "Ende der Welt, wie wir sie kennen" ("It's The End Of The World As We Know It", "Document, 1987). Aber das ist es gewiss. Und das werden wohl alle derzeit lebenden Menschen konstatieren müssen, die Zugang zu westlicher Musik haben.

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